Erinnerungen
Langsam stellte sich Tikali auf die Zehenspitzen und streckte den Arm so weit es nur ging nach oben. Warum mussten die Dinge, die man einmal im Jahreslauf benötigte, immer auf den höchsten Regalen und den höchsten Schränken ihre Zuflucht finden? Und das galt anscheinend selbst im Hause einer Glücksmaid. Ihre Finger berührten die oberste Kante, tasteten sich am Brett entlang …. Trollkacke, es muss dort sein. Plötzlich begann das Regal zu wanken und sich nach vorne zu neigen. Verzweifelt stütze sich Tikali dagegen doch die oberste Reihe an Büchern und Folianten sahen ihre Chance, endlich frei zu kommen und wie Vögel im Wind zu fliegen. Dummerweise sind Bücher weniger flugfähig als echte Vögel und so stürzten sie direkt zu Boden und ein besonders dickes Exemplar traf Tikali am Kopf.
Der ausgestoßene Fluch schreckte die Vögel vor dem Fenster auf.
Sich den Kopf reibend saß die Glücksmaid zwischen dem Chaos. Alle Bücher aus der obersten Reihe schienen herunter gepurzelt zu sein, nur das was sie eigentlich haben wollte, lag noch sicher noch immer wie eine fette genügsam grinsende Katze oben auf.
Nach einigen Momentend es Selbstmitleids begann Tikali die losen Seiten und herausgefallenen Blätter zusammen zu sammeln und wollte sie wieder den richtigen Büchern zuführen als … sie eine Zeichnung ihrer Eltern in die Hände bekam.
Tikali hatte seit langer Zeit nicht mehr an ihre Eltern gedacht. Lange starrte sie auf das Bild.
Es musste kurz nach ihrer Hochzeit gezeichnet worden sein. Von einer Künstlerin namens Leandra. Ihr Vater trug die typische schachentische Toga und blickte mit dem leicht erhabenen Blick eines geborenes strategos die das Bild betrachtende Tikali an. Eigentlich wusste sie wenig über ihren Vater. Er war meist in einem der unzähligen Kriege der schachentischen Stadtstaaten unterwegs. Zumindest war eindeutig klar, woher Tikali ihre feingeschnittene Nase herhatte, die sie laut Aussage vieler immer in die Angelegenheiten anderer steckte.
Dann fiel Tikalis Blick auf die Zeichnung ihrer Mutter. Sie war mehr als einen Kopf kleiner als Tikalis Vater. Sie trug zwar auch eine Frauentoga in schachentischem Stil, aber man merkte sofort, dass sie anders als Tikalis Vater nicht aus diesem Land Faeruns stammte. Woher genau sie eigentlich kam, dass wusste Tikali nicht. Sie war zu klein als beide in einem der Stadtkriege ihr Leben ließen. Und die Familie ihres Vaters hatte ihre Mutter eh nie akzeptiert und sah den Tod der beiden eher als Strafe der Götter an … also auch weg mit dem Balg, dass in der Bardenschule nur Gold kostete.
Die Augen ihrer Mutter und der leicht dunkle Hautton auf der Zeichnung zeigten zumindest, sie musste Vorfahren aus dem Osten haben. Dazu kamen ihre Tätowierungen im Gesicht und an Armen und Beinen. Tikali erinnerte sich noch unscharf an Tierbilder und Symbole. Sie war sich mittlerweile sicher, es mussten Zeichen der Gur-Nomaden sein, aber ohne klarere Erinnerung konnte ihr damals auch Lagrimmar nicht weiter helfen. Um den Hals hing die Glücksmünze, die sie an ihre Tochter vererbt hatte. Die Talismane und Amulette mit Federn und Knochen hatte Tikali immer für naiven Schmuck gehalten aber … natürlich. Tikali hielt die Zeichnung nahe heran und blickte genauer hin.
Das waren keine einfachen Schmuckstücke … es mussten Geisteramulette sein. Genauso wie die, welche sie fertigen gelernt hatte nachdem ihr Fey-Erbe erwachte war. Tikali hatte sich nie recht Gedanken darüber gemacht, woher dieses lange verborgene Erbe stammte aber es musste mit ihrer Mutter aus dem Osten gekommen sein. Leider konnte sie nicht mehr auf der Zeichnung erkennen.
Moment, doch, dort in der Hand ihrer Mutter. Waren das Spielkarten? Karten …. Es gab welche, die sie seit sie denken konnte bei ihren Sachen hatte. Sie dachte, sie stammen von ihrem Vater und hatte sie nie beachtet. Tikali sprang auf und beachtete die dabei wieder durcheinanderwirbelnden Papiere und losen Buchseiten gar nicht. Sie musste diese Karten finden!
Also sie sich im Zimmer umsah, fiel ihr Blick auf die Karte der Herzlande. Natürlich war sie so ungenau wie alle Karten. Im Grunde zeigte sie nur die wichtigsten Wegmarken wie Flüsse, Straßen, Gebirge und Städte. Nachdenklich versuchte Tikali alles zusammen zu setzen. Ihre Mutter kam aus dem Osten. Sie landete an der Ostküste der Inneren See. Rabenklippe, dort wo Tikali im Glückstempel aufwuchs. Sie wurde damals nur genommen, weil der Tempel ihrer Familie etwas geschuldet hatte. Aber vielleicht nicht ihrem Vater, den bekannten Heerführer und Piratenjäger der Inneren See … sondern ihrer Mutter? Als Sklaven von Piraten befreit hatte ihr Vater ihre Mutter aber an der Drachenküste im Westen des Inlandmeeres. Und die Gur-Nomaden zogen eigentlich durch die Westlichen Herzlande. War ihre Mutter vielleicht schon vor Tikali an der Schwertküste? War sie den großen Handelsweg entlang gezogen? Jahrzehnte vor ihrer Tochter? War sie durch Tiefwassers Gassen gezogen, hatte Baldurs Tor besucht?
Tikali stand mit den Kopf ans Fenster gelehnt im Raum und blickte in den feurigroten Himmel und zur untergehenden Sonne. Wie gerne hätte sie ihr all diese Fragen gestellt. Ihren Geschichten gelauscht. Gewusst, woher sie eigentlich kam.
Doch der Tod teilte Eltern von ihren Kindern, so war es seit Anbeginn der Zeit und so würde es immer sein. Auch ihre gerade vergossenen Tränen konnten sein Herz nicht erweichen.
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