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 Betreff des Beitrags: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Fr 16. Nov 2007, 13:35 
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Ich hoffe es stört niemanden, wenn ich hier Lothlanns Vorgeschichte (und womöglich auch seine "Nachgeschichte", nach Rivin) niederschreibe, selbst wenn ich nicht mehr aktiv spiele. Da sich alles in Sembia abspielt sollte es keine Konflikte mit den Riviner Geschehnissen geben.

Als feierliche Eröffnung ein in Arbeit befindliches Conterfei des aktuellen Lothlann, der sich irgendwo in Tiefwasser herumtreiben dürfte. Und sein Name in ... "Kursivthorass"* (sicherlich nicht von Lothlanns Hand ;) ).

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ÜBERSICHT


I. Von Barthelmes Siegen und Niederlagen
II. Vier gegen den Regen
III. Barthelmes leichtester Gegner
IV. Weltenwanderer
V. Im Lichte der Herrschaft
VI. Im Schatten der Herrschaft
VII. Illmaters Purgatorium (1/2)
VII. Illmaters Purgatorium (2/2)
VIII. Intermezzo: Traubenstein erwacht
IX. (1/2) Von Siamorphes Herrlichkeit – Spektakel der Majestät
IX. (2/2) Von Sharesi Herrlichkeit - Spektakel der Sinne
X. Intermezzo: Holz, Ruß und Fleisch - vom Alltag eines gräflichen Kammerheizerknechts
XI. Vom Hetzen und Fressen
XII. Der Aufgang der schwarzen Sonne
XIII. Zwei Köpfe, ein Gedanke

Wichtigere Charaktere
Lothlann – Hauptprotagonist
Barthelme – Lothlanns Vater
Ruben – Lothlanns ältester Stiefbruder
Randal – Kammerheizer bei den Grafen von Traubenstein, Lothlanns Meister
Gorlan – Torwächter bei den Grafen von Traubenstein
Eldon Hyacinth Graf von Traubenstein – G. der Herrschaften Traubenstein (und Niederhain)
Gretia – die Köchin bei den Grafen von Traubenstein

Nebencharaktere
Eliogarth – Lothlanns Mutter
Erlain – Lothlanns Stiefbruder
Orlann – Lothlanns Stiefbruder
Soria – Rubens Freundin
"Bauerswitwe" – Randals heimliche Liebschaft
Randin Sixt von Traubenstein – ältester Sohn des Grafen von Traubenstein
Eston Veith von Traubenstein – jüngerer Sohn des Grafen von Traubenstein
Tessele Alaine von Traubenstein – die Gräfin von Traubenstein
Andalie Miri von Traubenstein – Tochter des Grafen von Traubenstein
"Mann der Deneir" – Sekretär und Hofmeister des Grafen von Traubenstein

* Im Internet findet man eine andere Zuordnung der Buchstaben zu den Zeichen. Ich habe es nach dem FR-Settingsbuch gemacht...

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Fr 11. Jan 2013, 01:59 
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I. Von Barthelmes Siegen und Niederlagen

"Sieh einem Sember in die Augen, und du kannst die Münzen sehen, die er im Geiste zählt."

Ahhh! Sembia! Die glanzvollste Perle der inneren See! Keine andere Nation kann sich an der Herrlichkeit Sembias messen. Wie Edelsteine funkeln seine Handelsmetropolen Ordulin, Seglaunt, Saerloon und Daerloon. In Sembias brodelnden Städten kann man alles ersteigern, was Faerûn zu bieten hat. Die Händler sind das Rückrad dieser aufstrebenden Macht. Als ehemalige chondathische Pioniere haben die Sember kein Bisschen von ihrem Unternehmergeist verloren. Weder die heimtückischen Elfen, noch die zurückgebliebenen Talländer konnten dem sembischen Durchsetzungsvermögen und Einfallsreichtum die Stirn bieten. Und so wachsen die Städte empor! Aufgebaut auf guten Geschäftsbeziehungen und Schiffsladungen voll Wein, Samt und Seidenbrokat, und Pfeffer!

Aber Sembia hat auch seine ruhigen Flecken. Je weiter man sich von den Küsten und Flüssen, den kräftig pulsierenden Adern des Handels entfernt, desto langsamer schlägt der Puls des Lebens. Je entlegener die Bekanntschaften, desto seltener lässt sich das sonst so charakteristische Verlangen nach Aufbruch und Erfolg in den Gesichtern erkennen. Wir folgen den Wegen immer weiter, tauschen die bepflasterten Straßen der Stadt zunächst gegen die dicht befahrenen Überland- und Handelsstraßen, biegen dann ab auf breite schlammige Zubringerwege, durchqueren das sembische Hinterland, um schließlich staubige, halb überwachsene Feldwege zu begehen. Und einer dieser Wege führt uns an jenen Ort, an dem diese Lebensgeschichte ihren Anfang nimmt. Richten wir unseren Blick also auf einen abgeschiedenen Winkel, auf eine in sich gekehrte, kleine Welt irgendwo zwischen Searloon und Daerloon, im Schatten der großen Städte.

Sanft rollende Rebberge umschließen die überschaubaren Täler. In den Talböden steht oft nur ein einziger versprengter Hof. Nicht viel verändert sich hier über die Jahre. Welkes Gras, staubige Feldwege und Gewitterdonner im Sommer. Betäubende Stille und klamme Nässe im Winter. Wo Zeit und Witterung die Steinmauern der Weinterrassen zum Abbröckeln und Abrutschen gebracht haben, dort gibt das Erdreich Schiefergestein preis. Im ausgehenden Marpenoth, wenn sich die Blätter im spätsommerlichen Licht verfärben, wenn die Saatkrähen heran geflogen kommen, und wenn die abendlichen Schatten immer früher und bedrohlicher ins Tal ausgreifen, dann erfolgt stets die Weinlese. Heißer Sommer, guter Wein. Was der Sommer nicht kocht, wird der Herbst nicht mehr braten.

Die Natur mit ihren Jahreszeiten bestimmt hier über alle Wesen. Auf die überschwengliche, lebensbejahende Fülle eines erntereichen Spätsommers folgen stets Kargheit, Hunger, und vor Kälte schlotternde Lippen im Winter. Die Launen der Erde und des Wetters sind bekanntlich die strengsten Lehrmeister der Bescheidenheit. Herrisch bestimmt die Natur über das Wesen der hier Verwachsenen, zwingt ihnen ihr eigentümliches Gepräge auf. Doch zugleich geht von dieser Landschaft mit ihren Unberechenbarkeiten ein verführerischer Reiz aus, entfaltet sie doch auch die schönsten Schauspiele. Etwa im Winter, wenn die dunklen Shillouetten der Äste in den zart leuchtenden Winterhimmel ausgreifen, und wenn der Schnee die Landschaft mit einer erhabenen Stille bedeckt. Oder im Sommer, wenn der aufsteigende Dunst nächtlicher Wolkenbrüche die Weinhänge umhüllt und das Crescendo des Grillenkonzertes die schwere Nachtluft durchdringt. Die Menschen sind der grobkörnigen, bittersüßen Schönheit der Landschaft ausgeliefert. Den ansonsten so standhaften bäuerlichen Trotz gebrochen, die ländliche Derbheit von schwärmerischer Sucht gedämpft, spiegelt sich in den einheimischen Gemütern ein sonderbares Temperament wider.

Nur einer war hier eine Ausnahme: der Weinhauer Barthelme. Und wie es das Schicksal will, liegen die Wurzeln dieser Lebensgeschichte bei seinem Hof. Ein Stall, eine Scheune, und ein Eindachhof als Wohngebäude, lose um einen staubigen Platz versammelt, in der Mitte ein Brunnen. Dazu ein Heer aus knorrigen Weinreben, das sich terrassenweise in Reihe und Glied formiert, fest an seine Stöcke klammert und unaufhaltsam zur Sonne empor rankt. Es ist ein Hof wie viele andere in dieser Gegend. Er hat kaum Fenster, um die Bewohner vor der sommerlichen Hitze zu schützen. Die Fassade bröckelt. Ein Büschel Immergrün hängt über dem Türstock um unerwünschten Geistern den Zutritt zu verwehren. Im Inneren herrscht Dunkel. Weder das Tageslicht, das durch die kleinen Fenster fällt, noch die wenigen Talglampen mit ihren beinahe ersterbenden, mageren Flämmchen vermögen die niedrigen Stuben auszuleuchten. Die Dielen sind von Rauch und süßem Traubenduft durchtränkt, die schwarz verrußte Holzbalkendecke über dem Kamin ist morsch. Die Einrichtung - überschaubar. Ein Tisch mit sechs Schemeln, ein Kasten, eine Truhe und, durch einen Bretterverschlag separiert, ein Bett. Dafür sind die Wände über und über mit Werkzeug und Arbeitsgerät übersät. Alles, was in der Scheune keinen Platz mehr fand, drängt sich hier dicht and dicht.

Wir sehen Barthelme vor uns. Ein etwas beleibter, stämmiger Winzer, mit einem Gesicht, in dem das Schicksal tiefe und eindruckvolle Furchen hinterlassen hat. Dazu ein ehrfurchtgebietendes Doppelkinn, eine beständige, cholerische Röte der Wangen, sowie ein kalter, beinahe seelenloser Blick. Und dieser letzte Eindruck trügt nicht, denn Barthelme hatte das Gefühl für das Leben längst verloren. Er hatte verlernt wie man lebt.

Es ließ Barthelme kalt, wenn Sonnenuntergänge seinen Hof im prachtvollsten Gold erstrahlen ließen. Es ließ ihn kalt, wenn der erste Wein des Jahrgangs auf seiner Zunge seinen Geschmack entfaltete. Und es ließ ihn kalt, wenn er der Dorfjugend zusah, wie sie unter der Tanzlaube an Feiertagen das Leben zelebrierte. Er saß bloß da, abgeschieden und alleine, mit versteinerter Miene und leerem Humpen. Er konnte ganze Abende auf diese Weise versitzen. So manch anderer Bauer mochte hinter der harten Fassade vielleicht die eine oder andere Rührung vermuten, auf ein verräterisches, wehmütiges Funkeln in seinen Augen lauern. Doch Barthelme war nicht von dieser Sorte. Hätte er seine Seele in Gefahr geglaubt, wäre sie von dem fröhlichen Treiben der Dorffeste auch nur im Geringsten berührt worden, so hätte er es vorgezogen, den Abend auf seinem Hof zu verbringen. Durch sein Erscheinen im Dorf bewies er gerade das Gegenteil – er wollte der Welt zeigen, wie sehr er sie verachtete. Die Welt, das hatte er sich geschworen, konnte ihm nichts anhaben. Seine Auftritte bei den Dorffesten waren daher stets perfekt und makellos. Er ließ sich von nichts berühren, saß wieder alleine, und durchdrang die tanzende Jugend mit eisernem Blick.

Doch Barthelme war nicht immer so gewesen. Kein Mensch wird so geboren – Menschen, so sagt man, sind Geschöpfe der Hoffnung. Auch Barthelme hat sich einst als Teil des Lebens verstanden. Zwar war er stets ein ernster und schweigsamer Winzer gewesen, aber dahinter hatte sich immer ein feiner Sinn für Menschlichkeit und Mitgefühl verborgen, den er hin und wieder hervorblitzen ließ. Diesen Sinn aber hatte er sich aus Rache abgewöhnt. Rache an der Welt, die ihm all sein Glück mit einem schrecklichen Schlag auf hatte. Es war eine Krankheit, die Leonore von ihm genommen hatte. Sie, Leonore, die einzige, an die sich Barthelme jemals gewöhnt hatte – die einzige, an die er sich jemals gewöhnen hätte können. Und das war ihm stets bewusst. Ihr Tod bedeutete für ihn umso mehr eine Katastrophe. Barthelmes Welt hatte sich mit einem Male schwarz gefärbt. Am liebsten wäre er ihr nachgefolgt und hätte alles und jeden mit sich gerissen. Doch er hatte damals anders entschieden. Er wollte nicht fliehen, er wollte Rache. Und so verbat er sich das Leiden. Er ließ sich nicht von Schmerz treiben, sondern schwor, der Freude und dem Leiden, der Liebe und dem Leben zu trotzen, indem er verbissen weiterlebte, komme was wolle, als bloße Hülle einer zerstörten Seele, als Anklage.

Nun muss man freilich wissen, dass ein einsames Leben keine Option für einen Winzer war; selbst für einen Winzer, der nur noch von heftigstem Verlangen nach Rache zum Weiterleben getrieben wurde. Denn Barthelmes Herrschaft - von ihr wird später noch zu sprechen sein - würde nur Verständnis für seinen Entschluss zeigen, wenn er weiterhin die verlangten Abgaben lieferte. Kurz: Er musste den Hof weiterführen. Mit Leonore hatte Barthelme drei Söhne gezeugt: der älteste, Ruben, war zum Zeitpunkt der Katastrophe gerade vierzehn Sommer alt geworden. Elain und Orlan folgten jeweils im Abstand von einem Jahr. Mit drei Kindern konnte Barthelme die anfallenden Arbeiten unmöglich bewältigen. Diese praktischen Überlegungen waren es ganz allein, die Barthelme zu einer erneuten Heirat bewogen. Eine Heirat war notwendig, um seinen Rachefeldzug gegen das Leben fortzusetzen.

Seine zweite Ehefrau hieß Eliogarth. Ihr Schicksal war wahrlich kein glückliches. Als fünfte Tochter einer Bauernfamilie aus dem Nachbardorf hatte sie von klein auf keine Hoffnung auf eine gute Heirat gehabt. Ihrer Familie mangelte das Geld für eine fünfte Mitgift. Gerade dieser Umstand spielte direkt in Barthelmes Hände. Er legte keinen Wert auf eine Aussteuer - sein Hof war groß genug, und er selbst war von jeglichem Verlangen nach Aufstieg befreit. Und so kam die damals etwa vierundzwanzigjährige Eliogarth ohne Fest und Mitgift, ganz leise und unbemerkt, an den Barthelmes Hof, um dort die erforderliche Arbeit zu verrichten. Keine Musik, kein Festmal, kein Tanz. Es war Barthelmes erster großer Sieg über das Leben.

Man kann unschwer erahnen, wie es der schüchternen jungen Frau am Hofe des verbitterten Barthelme ergangen ist. Während er sein Leben mit einer bewussten Entscheidung bereits beendet hatte, stand sie noch am Anfang des ihren. Eliogarth war von ihren Eltern wohlweislich zu Bescheidenheit und Tüchtigkeit erzogen worden, weshalb sie die aufgetragenen Arbeiten stets zu Barthelmes Zufriedenheit erledigen konnte. Sie besorgte auch das Nötigtse um die drei Söhne. Wohl nur aus diesen Gründen heraus vermochte Barthelme Eliogarths Anwesenheit am Hof zu ertragen. Nicht, dass sie seiner einschüchternden Art und seiner Lebenserfahrung gewachsen gewesen wäre. Er redete mit ihr genauso wenig wie mit seinen drei Söhnen, und blieb ihr daher immer ein Fremder. Nie vergaß er seine bedrohliche, kalte Art. Und so ertrug sie ihr Unglück, während er weder Glück noch Unglück kannte.

Unerklärlich bleibt deshalb, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Hatte die Leidenschaft Barthelme tatsächlich noch ein letztes Mal gepackt, hatte er eine Niederlage erfahren müssen? Hatte er, nach seinem ausufernden, abendlichen Trunk den Anblick ihrer Jugend nicht ertragen? Konnte er selbst die Verantwortung für ihr Unglück nicht verkraften? Hatte er sich entgegen all seiner Prinzipien provozieren lassen, seinem Hass auf junges Leben noch einmal zum Ausbruch verholfen? Jedenfalls schenkte Eliogarth Barthelme nach einem Jahr einen Sohn, Lothlann. Es ist nicht auszuschließen, dass die Mutter für einen kurzen Moment ein wenig Glück erahnen konnte, als sie zum ersten Mal in das Angesicht des frischen Erdenbewohners sah. Doch ihre große Hoffnung, dass der kleine Lothlann das vollbrachte, was sie selbst nicht schaffte, nämlich das Herz ihres verbitterten Ehemanns aufzuweichen um damit allen Bewohnern des Hofes ein besseres Leben zu bescheren, wurde bitter enttäuscht. Dies war Barthelmes zweiter große Sieg über das Leben. Und so darf es niemanden verwundern, dass Eliogarth nach etwa anderthalb Jahren, als die drei Stiefsöhne bereits zu Jugendlichen herangereift waren und als Lothlann ihre Brust nicht mehr brauchte, eines Morgens verschwunden war. Sie kehrte nicht wieder.

Lothlanns Vater Barthelme
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Lothlanns Mutter Eliogarth
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Musikvorschlag 1, Musikvorschlag 2

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Fr 11. Jan 2013, 16:22 
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II. Vier gegen den Regen (noch wip)

Barthelme verbuchte einen weiteren Sieg, gratulierte sich selbst zu diesem ausgeklügelten Geniestreich gegen das Leben. Er hatte wahrscheinlich bereits darauf gewartet, hatte alles vorhergesehen, vorhergeplant. Umso mehr genoss er das Getraschte und die Gerüchte im Dorf, badete sich, gut versteckt hinter seiner versierten gleichgültigen Miene, in den verblüfften Blicken. Wie konnte ihn so etwas kalt lassen? Wollte er ihr nicht nachspüren? Wie ist es dazu gekommen? Wie kann er nur so...? Eine erneute Heirat war nicht vonnöten, auch bestand wenig Aussicht auf eine zweite Eliogarth. Sie war eine perfekte und einmalige Gelegenheit gewesen. Aber nun waren seine drei Söhne alt genug, um mit ihm den Hof zu führen.

Und so wuchs der kleine Lothlann im Verband seiner älteren Stiefbrüder und seines Vaters auf. Es nimmt keine Wunder, dass er in Barthelme mehr den Herrn als den Vater sah. Er war unfähig, Barthelme zu begreifen. Wie konnte er auch. Bald gab Lothlann die tastenden Blicke auf. Er erkannte, dass bei Barthelme keine Zuneigung zu finden war. Aber er erkannte zugleich, dass es nicht an ihm lag. Lothlann lernte zu verstehen, dass Barthelme nur als Hülle existierte. Das Vorbild seiner Stiefbrüder half ihm dabei, ein Auskommen mit Barthelme zu finden. So, wie die Bauern mit dem Wetter umzugehen wussten, so lernten auch die vier Söhne, mit ihrem Herrn und Vater umzugehen. Barthelmes Präsenz drückte auf den Hof wie ein schwerer, bleierner Regenhimmel, aber Ruben, Elain, Orlan und bald auch der kleine Lothlann waren stets vorbereitet, manövrierten geschickt um Umwetter herum, warnten einander und gewährten sich gegenseitig Deckung und Unterschlupf, wenn es einmal losdonnerte. Jeden Abend saßen die Söhne mit ihrem Herrn Vater zu Tisch und aßen schweigend ihr Mahl. Barthelmes Präsenz legte sich in diesen Stunden besonders schwer auf ihre Schultern. Und auch Lothlann schwieg und versuchte sein Kindsein zu verheimlichen. Doch sobald sie sich zu ihren Strohbetten zurückgezogen hatten, und spätestens sobald Ruben heimlich schnippische Andeutungen über Barthelme machte, fiel die Last von ihnen ab. Die schmale Leiter zum Dachboden bildete die Grenze zwischen zwei Reichen. Dass sie zu viert waren, und dass der älteste, Ruben, als fester Anker dem Gespann Halt verlieh, spielte hier freilich eine große Rolle.

Zuneigung fand Lothlann also anderswo. Die Rolle des Vaters übernahm für ihn sein ältester Stiefbruder Ruben. Er war es, der die schrecklichen Horrorbilder vertrieb, die Lothlanns Kopf entwarf, wenn Sommergewitter auf den Hof niedergingen, oder wenn er sich des Nachts von bösen Geistern heimgesucht wähnte. Er war es, der Lothlann aufmunterte, wenn ihm die Arbeit auf den Feldern eintönig wurde, oder wenn ihm die Last zu schwer fiel. Die beiden hatten schon früh besondere Bande geknüpft. Ruben, bei Lothlanns Geburt etwa fünfzehn Jahre alt, würde als ältester Sohn eines Tages den Hof übernehmen. Die Beziehung zwischen ihm und seinen beiden jüngeren Brüdern Elain und Orlan war durch diesen Umstand belastet. Lothlann hingegen stellte als jüngstes Familienmitglied keine Gefahr dar. Auch hatte er Leonores Zeit, Barthelmes Wandel und die Geschehnisse bis zu Eliogarths Ausbruch nicht miterlebt, die doch an keinem der Brüder ohne Spuren vorübergegangen waren. Lothlann war somit das unbelastete, unverbrauchte Familienmitglied, das niemanden gefährdete und bei niemandem unangenehme Erinnerungen wach rief. Und so nahm sich Ruben, der gerade alt genug war, um in dem jungen Menschlein etwas Tröstendes zu finden, seiner an und umsorgte ihn wie einen Sohn.

Lothlann wuchs unbekümmert und, ja man könnte es so sagen, glücklich auf, wenngleich Glück dem Kind freilich kein Begriff war– es war einfach nur da, im Hier und Jetzt. Dürren und Überschwemmungen blieben aus, der Wein brachte stets ausreichend Ertrag, und Barthelmes Grundstücke waren groß genug. Es gab in diesen Jahren also stets ausreichend zu essen. Nicht zuletzt die erkleckliche Kost mag wohl auch dafür gesorgt haben, dass sich Lothlann als zäh erwies, und die Krankheiten, von denen er wie jedes Kind heimgesucht wurde, gut überstand. Selbst ein winterliches Bad im Eiswasser, als er in den Fischteich der Herrschaft eingebrochen war, übertauchte er nach wenigen kritischen Wochen.

Und abseits der Arbeit auf den Weinterrassen gab es hin und wieder auch Zeit für kleinere und größere freudenreiche Momente. Wir dürfen einen Blick auf Lothlanns Sammlung außergewöhnlicher Schneckenhäuser und schöner Steine werfen. Wir sehen ihn vor uns, wie er sich hinter den Weinstöcken verbirgt, um seine Stiefbrüder zu animieren, ihn zu fangen. Und obwohl sie bereits zu alt für kindische Spiele waren, konnten sie manchmal nicht umhin, ihrem kleinen Stief-Mitbewohner die ersehnte Freude zu bereiten, indem sie ihn quer durch die Weinstöcke jagten. Sie hetzten ihn, fingen ihn ein, warfen ihn über den Haufen und wälzten ihn als Bestrafung in der lehmigen Erde, was er vergnügt quiekend über sich ergehen ließ. Der kleine Aufwand stand in keinem Verhältnis zu dem strahlenden Gesicht, das sie oft noch auf dem ganzen Heimweg begleitete.

Barthelme kümmerte das nicht weiter, solange sie ihre Arbeit nicht vertrödelten. Und ja, vielleicht war in diesen Momenten gar nicht der Rachegedanke der Grund von Barthelmes Gleichgültigkeit. Vielleicht nahm er aus anderen Ursachen keinen Anteil an Lothlanns Leben. Denn sein jüngster Sohn war noch ein Kind, und als solches war er nur Teil dieser Welt, hatte aber noch keinen Zugriff auf sie, keinen Begriff von ihr. Und so ist es durchaus möglich, dass Barthelme in Lothlann nur ein weiteres, unwissendes Opfer sah, das noch nicht begriffen haben konnte, wie die Welt wirklich war, und dem daher naive Freude und auch das naive Weinen zu verzeihen war. Aber er war sich sicher: auch Lothlann würde eines Tages sehen und erkennen müssen. Und dann würde sich zeigen, ob er genauso stark wie sein Vater sein würde, ob er ihn vielleicht verstehen, bewundern würde; oder ob er bloß wie die anderen nachgeben würde. Bis es soweit war, vermochte Barthelme Lothlann zu dulden – ganz ohne Missgunst.

Nun war es gewiss eine brüderliche, ja beinahe väterliche Liebe, die Ruben an seinen kleinen Stiefbruder band. Doch darf man wohl nicht zu Unrecht auch ein zweites Motiv dahinter vermuten. Dem aufmerksamen Leser wird nicht engangen sein, dass sich das Schicksal der Mutter bei dem Sohn wiederholte. Einem vierten Sohn stand keine sichere Zukunft bevor. Ruben, der Erbe des Hofes, würde eines Tages heiraten und eine eigene Familie haben. Barthelme würde, falls er seinen Rachefeldzug bis dahin noch nicht abgeschlossen hatte, mit einem Ausgedinge versorgt werden müssen. Elain und Orlan galt es zu entschädigen – auch sie würden anderswo unterkommen müssen. Viel blieb da nicht übrig. Vor allem dann nicht, wenn man auf die Unterstützung der Mutter und ihrer Sippe keine Hoffnung setzen durfte. Das Verschwinden Eliogarths hatte ihrer Familie selbstredend Schande eingebracht, die in Lothlann ihren Ausdruck gefunden hatte. Es verwundert daher nicht, wenn es Eliogarths Familie lieber gewesen wäre, wenn es Eliogarth und Lothlann nie gegeben hätte. Eliogarth fügte sich diesem Wunsch ungefragt durch ihre Abwesenheit. Aber Lothlann war da. Seine Ansprüche vor der versammelten Dorfgemeinschaft einzufordern kam nicht in Frage. Ruben wusste freilich von all dem, von Anfang an. Alle wussten es. Nur Lothlann noch nicht. Von seiner Mutter machten sie ihn glauben, sie sei bei seiner Geburt verstorben. Nachzufragen traute er sich nicht. Vielleicht spürte Lothlann, dass diese Erklärung für alle Beteiligten die bessere war. Offenbar wollte niemand an die andere Geschichte glauben, also hatte man beschlossen, sie in einen undurchdringlichen Mantel des Schweigens zu hüllen. Und von daher wird man annehmen dürfen, dass bei Ruben unterschwellig auch Schuldgefühle eine Rolle gespielt haben werden. Als Ausgleich für die Enttäuschung, die Lothlann unweigerlich eines Tages treffen musste, begleitete ihn Ruben liebevoll in den ersten Jahren seines Lebens.

Und die Enttäuschung rückte immer näher. Während Lothlann heranwuchs, begann er die Welt immer besser zu begreifen. Als er elf Jahre alt war, musste er sich eingestehen, was er lange nicht wahrhaben wollte. Ruben war nicht sein Vater. Ruben hatte ein Mädchen kennen gelernt. Er verbrachte immer weniger Zeit mit Lothlann, vergaß ihn immer öfter. Während Lothlann den allmählichen Entzug der Zuneigung verdaute, kam er ins Grübeln. Die Welt, Sorgen und Zweifel schlichen sich Schritt für Schritt in seinen bis dahin unbekümmerten Kopf, bis er schließlich an dem Punkt angelangt war. Es war ein Wintertag. Er befand sich mit Ruben auf dem Heimweg vom Dorf. Und er stellte die Frage nach seiner Zukunft.

Lothlann am Hof von Barthelme
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Musikvorschlag 1, Musikvorschlag 2

[die nächsten drei Teile sind in Arbeit - allerdings alle drei gleichzeitig; Und da ich bis Ende Jänner überhaupt keine Zeit habe, wird es wohl noch dauern :( ]

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Zuletzt geändert von Lothlann am So 10. Feb 2013, 12:08, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Mi 6. Feb 2013, 16:26 
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III. Barthelmes leichtester Gegner

„Kann er nit draußen spielln?“ fragte die hübsche Soria mit amouröser Röte im Gesicht. „Lass ihn,“ kam die Antwort ihres Liebhabers, „zerbrich dir dein schöns Köpflin nicht.“ Ruben schickte Liebkosungen hinterher, ihr den Vorschlag zu versüßen. Und flugs war der ungebetene Dritte aus den Gedanken des Paares vertrieben, sodass es ganz für sich und heimlich sein konnte.

Lothlann, der besagte Dritte, wartete einstweilen unten in der Kammer. In einen tropfenden Filzumhang gehüllt, saß er vor der Glut des Kamins, still wie eine Statue. Lothlann kümmerte sich nicht weiter um die sehnsuchtsvollen Seufzer vom Heuboden, denn sein Kopf war mit Wichtigerem angefüllt.

Es war ein warmer Wintertag. Tauwetter. Die Sonne ließ den Schnee erstrahlen, fraß sich an einigen Stellen bis zum Erdreich durch. Hier und dort ließ die Wärme kleine plätschernde Schmelzwasser-Bäche entstehen. Von den Ästen und den feucht glitzernden Eiszapfen sprangen Tropfen, um kleine Krater in die Schneedecke zu schlagen. Lothlann hatte an diesem Tag von Barthelme die Erlaubnis bekommen, Ruben ins Dorf zu begleiten, wo sie drei Hühner für die Herrschaft abzuliefern hatten. Auf eine solche Gelegenheit hatte er zwei Monde gewartet. Er wollte mit seinem ätesten Stiefbruder nicht zwischen Tür und Angel, und vor allem ohne die Ohren von Elain, Orlan und Barthelme sprechen. Der Weg nach Windberg, dem zentralen Ort der Herrschaft, dauerte in Matsch und nassem Schnee etwa vier Stunden. Doch er wollte nicht am Hinweg, sondern erst am Rückweg, ganz beiläufig, fragen, um sich nicht aufzudrängen. Sie gaben also die Hühner ab und machten sich auf den Rückweg. Doch dann schlug Ruben – was nicht geplant gewesen war – einen Umweg über den Hof seiner Geliebten Soria ein, die er zu allem Unglück auch noch alleine antraf. So musste Lothlann seine Frage zurückhalten, bis die beiden einander ihre Zuneigung bewiesen hatten. Also wartete Lothlann ab und bekämpfte die Müdigkeit des langen Wintermarsches, malte sich alle möglichen Antworten aus, wog nocheinmal ab, ob die Situation auch passend war.

Er hatte auch nach dem Beistand der Götter gesucht. Allein, nicht viele Göttergestalten waren in Lothlanns Kopf präsent, und er fand keine Macht, der er seine Sorgen anvertrauen konnte. Die Glücksmaid Tymorien war ihm fremd. Wie sollte er auch von ihr gehört haben? Er wusste nicht mehr und nicht weniger als andere Bauern der Gegend. In der Herrschaft Windberg gab es einen einzigen Tempel. Die Grafen von Traubenstein – die Eigentümer jener Herrschaft – hatten ihn vor langer Zeit der Erdenmutter Gianntiah gestiftet und mit genug Pfründen für eine Priesterin und fünf Adeptinnen ausgestattet. Immer noch bedachten sie den Tempel regelmäßig mit Votivgaben. Aber außer zu Grüngras, bei Hochzeiten oder bei Ackerweihungen war Lothlann kaum in Kontakt mit den Gianntiah-Pastoralen gekommen. Und so verwundert es nicht, wenn er wenig über die Erdenmutter, und noch weniger von anderen Göttern wusste. Wenn doch, dann nur in bedrohlichen, schemenhaften Umrissen. Das Volk des sembischen Hinterlandes begegnete höheren Mächten nicht auf geordnete Weise, sondern unmittelbar, zumeist in völliger Ohnmacht. Es kam mit Kräften in Kontakt (oder bildete sich dies zumindest ein) ohne diese den einzelnen göttlichen Wesenheiten zuordnen zu können. Gegen Talonas Missernten wandte man sich an den Erdenmutter-Tempel, aber andere außergewöhnliche Vorkommnisse blieben den Bauern stets Mysterien. Man erzählte sich von sprechenden Tieren, von Menschen, die von Göttern beseelt wurden, von Elfen, die im Namen ihrer maliziösen Gottheiten Magie wirkten (Elfen waren einem Sember - auch historisch bedingt - stets ungeheuerlich und feindseelig, ihr Aufenthalt in Sembia verboten), und von merkwürdigen Reisenden oder eigenartigen Himmelserscheinungen. Viele Dämonen und Geister trieben ihr Spiel in Lothlanns Landstrich, aber die Bauern konnten nichts dagegen tun, als ihnen eigene Namen zu geben, sich eigene Götter zu schaffen. Niemand konnte hier auf Schriften und vermittelnde Kleriker zurückgreifen – selbst die Priesterinnen der Erdenmutter waren keine große Hilfe, stammten sie doch aus derselben Schicht wie die Bauern, und hatten nie Reisen in die größeren Städte, zu den großen Tempeln mit ihren umfangreichen Wissensbeständen unternommen. Der Tempel diente vor allem als Ventil für die überzähligen Töchter reicherer Bauersfamilien. Und so wusste auch Lothlann nichts über göttliche Wesenheiten, während er sich einbildete, dass sie alles über ihn wussten und ihn mit ihrer Übermacht erdrücken konnten. Wieviel besser mussten es da die Gebildeten in den Städten haben, die von einem breit gefächerten Klerus Hilfen zur Hand gereicht bekamen, wie sie mit einzelnen Göttern umgehen, in Verbindung treten konnten und außerdem in deren Zuständigkeiten und Gesinnungen eingeweiht wurden. Lothlann bewegte sich hingegen wie seine ländlichen Genossen auf unbekanntem, gefährlichen Terrain.

Und so tat Lothlann alles in seiner Macht stehende, um die höheren Kräfte auf seine Seite zu bringen. Er vergrub seine schönsten Schneckenhäuser als Opfergabe auf der Spitze des Weinberges – zweifellos ein eher fragwürdiges Verhalten, das seinen spärlichen Erfahrungen erschuldet war. Er tat einfach nach, was er bei der Acker- und Bergweihung beim Nachbarhof gesehen hatte. Außerdem drehte sich während des gesamten Vortages hindurch nie nach links herum um und spuckte in seinen rechten Schuh, ehe sie ins Dorf aufbrachen. Damit wähnte er den göttlichen Beistand auf seiner Seite.

Als er in der Kammer saß und wartete, nagten die Fragen weiterhin an ihm. Was, wenn Ruben ablehnte? Andere Bauernfamilien der Gegend hatten genug Mäuler zu stopfen. Elain konnte vielleicht am Hof bleiben, Orlan würde ausgezahlt werden, würde sein Glück woanders suchen, vielleicht in der Stadt. Und er? Allein der Gedanke, die sanften Rebhänge seiner Heimat verlassen zu müssen, ließ ihn schaudern. Er malte sich alle Szenarien aus, die er sich auch nur im Entferntesten vorstellen konnte: Er sah sich als Weingartenknecht von Dorf zu Dorf auf der Suche nach Arbeit vagieren, als Kriegsknecht gegen die Taliser im Osten oder gar gegen Elfen kämpfen, als Ruderer auf den Handelsschiffen schwitzen, derer es auf der See angeblich abertausende geben sollte. Mit seinen Gedanken in der dunklen Spirale gefangen, sah er sich schließlich als Bettler verenden - eine Vorstellung, die ihn immer wieder überwältigte.

„Sag’ mir, dass d’mich heiratest!“ drängte sich Sorias zuckersüße Stimme in Lothlanns Gedanken. Ruben kam die Leiter zum Heuboden herunter gestiegen.
„Sag’s mir!“ Sorias Kopf erschien fordernd in der Luke.
Ruben hielt inne, stieg noch einmal eine Sprosse empor und drückte seiner Liebsten einen Kuss auf die Stirn. Das stellte sie zwar nicht ganz zufrieden, ließ aber immerhin nur ein gedämpftes Schmollen zurück.
„Spannst mich ja anjezo schon vor den Pflug, was brauchst mich da noch heiraten!“ scherzte Ruben.
Als Soria Lothlanns Blick gewahr wurde, wich ihr gespieltes Schmollen einem trockenen, ernsten Blick. Sofort verschwand ihr Kopf aus der Luke. Ruben, dem das nicht entgangen war, zwinkerte Lothlann aufmunternd zu, als ob er ihm bedeuten wollte, dass er sich nichts daraus machen sollte. Und so traten die beiden, begleitet von der Dämmerung, endlich den Heimweg an.

Etwa auf halbem Weg platzte es endlich aus Lothlann heraus.
„Ruben?“
„Mh.“
Lothlann ließ sich Zeit, um sicherzustellen, dass sein Bruder gut zuhörte, und auch merkte, dass es wichtig war.
„Was wird aus mir, wenn Barthelme alt wird?“
Ruben warf einen Blick zu ihm, der seine Überraschung kaum verbergen konnte. Doch schon in kürzester Zeit hatte er seine Fassung wieder gewonnen, lachte ein wenig und wich aus:
„Nah, unser alter Herr ist zäh, das weißt’ doch. Dumme Frage!“
Damit quälte er Lothlann ein weiteres Mal über dieselbe Frage. Aber darauf war Lothlann ja vorbereitet gewesen, er hatte gegnerische Ausweichmanöver eingeplant und hielt unbeirrt seinen Kurs:
„Und wenn du heiratest…“
Diesmal verriet Rubens Schweigen, dass die Botschaft angekommen war. Etwas verlegen sah Ruben zu Boden, während sie schweigend weitergingen. Er nahm sich Zeit, um sich eine Antwort zu überlegen, bis Lothlann ihn mit einem Blick drängte.
„Ach. Du machst dir Sorgen.“
„Lässt’ mich am Hof bleiben? Du kannst mich nicht am Hof bleiben lassen … Gell?“
Abermals war von Ruben nur Stille zu vernehmen. Damit bestätigte sich, was Lothlann ohnehin gespürt und befürchtet hatte. Dass es nun angesprochen werden musste, stimmte beide traurig. Ruben wollte ihn jedoch nicht ohne Hoffnung lassen:
„Aber s’ist ja noch nicht soweit. Und ich versprech’ dir, wir finden ein Auskommen für dich. Irgendwo, wo’s nit schlecht ist, kommst du unter. Dafür sorg’ ich.“
Lothlann sah angestrengt aus, als müsste er gedanklich mitwirken und fest daran glauben. Weiter nachzubohren hielt er nicht für ratsam, denn er konnte die Antwort nur schwer einschätzen. Besser als befürchtet, aber schlechter als erhofft. Diese Unbestimmtheit und die Müdigkeit des langen Marsches ließen ihn keine weiteren Fragen stellen. Sie gingen weiter und schwiegen sich über die unangenehme Situation aus.

So lebte Lothlann in Ungewissheit über seine Zukunft weiter. Er wusste, dass er Ruben nicht an das Versprechen erinnern musste, denn er war sich des festen Bandes zwischen ihm und seinem ältesten Stiefbruder wohl bewusst. Er vertraute fest. Und so folgte auf den Winter der Frühling. Grüngras wurde unter der Schirmherrschaft der Erdenmutter wie jedes Jahr mit Prozessionen (und der versteinerten Miene Barthelmes) zelebriert, und auf den Frühling folgte der Sommer mit seinem großen Arbeitspensum, elend heißen Tagen und beeindruckenden Wolkenbrüchen. Dann aber kam der Herbst, der alles änderte.

Ruben, Elain, Orlan und Lothlann, saßen wie jeden Abend mit ihrem Herrn Vater zu Tisch. Seine Präsenz gebot wie immer betretenes Schweigen, ein Blick von ihm genügte, um Worte bereits in der Kehle zu ersticken. Das alles waren die drei gewohnt. Nachdem er sein Mahl beendet hatte, würde Barthelme verkünden, ob am nächsten Tag außertourliche Arbeiten anstanden – die gewöhnlichen waren ihnen ohnehin in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn nicht, schwieg Barthelme sie den ganzen Abend hindurch an. Er würde ihnen höchstens durch Blicke zu erkennen geben, falls er mit ihrer Arbeit nicht zufrieden war. Doch an diesem Abend brach Barthelme ganz unvermutet und unberechenbar das Schweigen.

Er hielt inne, die dünne Suppe bereits auf den Löffel geladen, schien kurz zu überlegen, und bellte schließlich mit seiner tiefen Stimme:
„Lothlann.“
Alle vier fuhren hoch. Barthelme schlürfte die Löffelladung, schmeckte daran um sich etwas länger in den erschrockenen Blicken seiner Sprösslinge zu baden. Lothlann hatte als Angesprochener seinen Löffel kurzerhand fallen gelassen und war kreidebleich angelaufen. Barthelme schmatzte, schluckte, überflog seinen jüngsten Sohn nur mit einem flüchtigen Blick, und brummte dann:
„Nächsten Zehntag kommt der Herr Kammerheizer und nimmt dich mit.“
Nachdem er das Wichtigste verkündet hatte, räusperte er sich, nahm einen weiteren Löffel zu sich und sprach mit vollem Mund, den Blick auf den Tisch gerichtet.
„Die Herrschaft verbringt den Winter in Traubenstein. Der Kammerheizer war heute hier. Er wird alt und sucht einen Jungen. Du fängst bei ihm an.“
Nun war es vielleicht weniger der Nachricht, als der Situation verschuldet, dass Lothlann wie vom Blitz getroffen da saß und seinen Vater einige Momente hindurch mit aufgerissenen Augen anstarrte, ehe er sich schließlich wieder daran erinnerte, ihm besser nicht unangenehm aufzufallen. Nur das leichte Schnaufen, die arbeitenden Nasenlöcher verrieten, wie schwer er an dieser Nachricht zu tragen hatte. Barthelme war das freilich nicht entgangen. Er wusste sofort, von welcher Sorte sein Jüngster war. Er hatte ihn auf die Probe gestellt und das Ergebnis war wie erwartet ausgefallen. Enttäuschend? Nein. Barthelme freute sich insgeheim darüber, dass Lothlann seinen Ansprüchen nicht genügte. Einmal mehr bewies sich Barthelme dadurch nämlich die eigene, bewundernswerte Stärke, feierte sich selbst. Der alte Herr hatte damit alles gesagt und fuhr mit seinem Mahl fort, was zugleich das Zeichen für seinen Nachswuchs war, es ihm gleich zu tun. So löffelten alle weiter, nur Ruben zögerte einen Augenblick und machte eine sorgenvolle Miene. Barthelmes Stille senkte sich wieder über die Tischgemeinschaft. An diesem Tag war sie Barthelme umso süßer, da jeder spüren konnte, wie gewaltig es unter der bedrückenden Decke des Schweigens brodelte.

Barthelmes genialer Coup, ob Zufall oder kühle Berechnung, trennte das Band zwischen Lothlann und Ruben in kürzester Zeit. In den wenigen verbliebenen Tagen redete Ruben auf Lothlann ein. Er würde auf Schloss Traubenstein, in der Nähe der Herrschaft seine Arbeit verrichten dürfen. In der Familia des Grafen von Traubenstein würde es ihm sicherlich gut ergehen, er würde seinen Herrn gewiss auch in die große Stadt, Saerlon, begleiten, etwas von der Welt sehen. Und eines Tages könnte er selbst die Stelle des Kammerheizers übernehmen, vielleicht sogar heiraten und eine eigene Familie gründen. All das änderte jedoch nichts an dem Umstand, dass Lothlann sich von Ruben betrogen fühlte. Nicht Ruben, sondern Barthelme hatte über sein Schicksal entschieden, und Ruben wagte es nicht, gegen die Entscheidung des alten Herrn Position zu beziehen. Je mehr Ruben ihm die Zukunft schmackhaft zu machen versuchte, desto mehr verfestigte sich bei Lothlann der Eindruck, im Stich gelassen worden zu sein. Und auch Ruben, der in der letzten Zeit zugegebenermaßen mehr mit seiner gemeinsamen Zukunft mit Soria beschäftigt gewesen war, als mit dem Schicksal seines Stiefbruders, war es freilich höchst unangenehm, auf diese Art das Gesicht zu verlieren. Jedoch war keine Zeit für langen Streit, oder der verlorenen Verbindung nachzutrauern, denn keine sieben Tage später stand bereits der Kammerheizer vor der Tür. Es war einer von Barthelmes leichteren Siegen gewesen.

Musikvorschlag 1

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BeitragVerfasst: Sa 9. Feb 2013, 16:01 
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IV. Weltenwanderer

Barthelme erschien zu Mittag am Feld, um Lothlann zu holen. Der Kammerheizer war gekommen und wartete am Hof auf die Übergabe seines neuen Gehilfen. Lothlann nahm schnellen Abschied von seinen Brüdern und folgte Barthelme nachhause, wo ihn sein Vater zuerst an den Brunnen wies:
„Geh her und wasch dir das G’sicht und die Füeß für den Herrn.“
Der aufgeregte Lothlann tat, was in kürzester Zeit möglich war, und betrat dann als halbwegs vorzeigbarer Kammerheizerjunge die Stube.

Sein neuer Meister saß bei einem Kelch Wein bei Tisch, auf Rubens Platz. Er war ein mittelgroßer Mann mit einem eckigen Kopf. Besonders stark sah er nicht aus, aber dafür zäh und hager. Er ähnelte einem dünnen, widerspenstigen Ästchen, das nicht nachgab, egal wie stark man auch an ihm zog und riss. Und er grinste auch wie ein solches Ästchen – hunderte Falten und Furchen schrieben ihm ein spöttisches, listiges Feixen in das Gesicht. Von seinem Hinterkopf standen einige schüttere, weiche Haarbüschel wie Federn ab, der Rest des Kopfes war kahl. Aber Lothlann sah auch seinen feinen rotbraunen Wams und den von einem makellosen Stehkragen abgeschnürten Hals. Zuletzt überzeugte ihn auch der am Tisch drappierte, reich befiederte Hut, dass diese Erscheinung unmöglich einem Bauern gehören konnte. Ohne Zweifel saß da ein Bedienter der Herrschaft, der Grafen von Traubenstein und Niederhain vor ihm. Der ranghohe Gast beeindruckte Lothlann so tief, dass er kurzerhand, von Demut ergriffen, den Blick senkte und das frisch gewaschene Gesicht versteckte.

„Das ist Herr Randal Immerglut, der Herr Oberkammerheizer bei der Grafschaft,“ gab Barthelme seinem Sohn mürrisch zu verstehen.
Sekunden verstrichen, in denen der Kandidat nur stumm auf den Holzboden starrte. Als es für alle zu peinlich wurde, erteilte Barthelme ihm einen kleinen Stoß nach vorne.
„Guten Tag, Herr.“ presste Lothlann endlich hervor.
Der Fremde seufzte ausgedehnt, als er sich vom Sessel erhob, ob vor Anstregung oder aufgrund seines ersten Eindruckes von seinem neuen Gehilfen. Er kam näher, begutachtete Lothlann einen Augenblick lang und wandte sich dann mit schnarrender Stimme an Barthelme.
„Hast du mir nicht gesagt, er wär’ stark?“
Barthelme durchstach Randal mit einem leeren Blick und maulte:
„Ist recht zäh.“
Randal drehte eine Runde um Lothlann, um zu überprüfen, ob Barthelme auch keine Defekte und Haken an der Rückseite versteckt hatte. Dann brachte er eine weitere Sorge zum Ausdruck.
„Isst er viel? Du weißt, der Herr Graf kommt erst in zwei Decidien.“
„Er ist genügsam, Herr“ gab Barthelme mit einem Blick zurück, der es ratsamer erscheinen ließ, auf weitere Fragen zu verzichten. Aber Randal zeigte sich ganz unbeeindruckt. Er ließ es sich nicht nehmen, mit zwei Fingern an seiner Unterlippe zu reiben, als stünde der Handel noch in der Schwebe. Das trieb Barthelme eine hitzige Röte ins Gesicht. Diesmal war es nicht er, sondern der Fremde, der die Momente auskostete. Lothlann wurde zum ersten Mal Zeuge offenen Widerstandes gegen seinen Herrn Vater, eines Kampfes, in dem sein alter Tyrann unterlag. Wie vom Donner gerührt vergaß er darüber den Kammerheizer und warf einen überraschten Blick hinauf zu Barthelme.

„Also gut.“ erlöste Randal Barthelme nach einer kleinen Ewigkeit. Mit diesen Worten schritt er auch schon an ihnen vorbei, hinaus ins Freie, wo er sich seinen Hut auf den zerrupften Kopf setzte. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Lothlann packte Löffel (oft der persönlichste Besitz eines Bauern) und Filzmantel fedelte eilig in seine seine Holzschuhe ein, um den neuen Herrn nicht warten zu lassen. Dann schlüpfte er unter Barthelmes Schatten hinaus. Der letzte flüchtige Kontakt zu seinem Vater galt der Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Der gekränkte Barthelme senkte seinen Blick auf ihn, den einzigen Zeugen seiner soeben erlittenen Niederlage, sah ausdruckslos durch ihn durch und schwieg. Randal war bereits fünfzig Meter vorausgegangen, die Lothlann rasch aufholen musste. So verließ er also die ihm bekannte Welt – Ein Stall, eine Scheune, und ein Eindachhof als Wohngebäude, lose um einen staubigen Platz versammelt, in der Mitte ein Brunnen.

Bis ins Dorf Windberg waren es vier Stunden, von dort aus noch einmal zwei nach Schloss Traubenstein. Der zerrupfte Kammerheizer ging eilig in staksigen, schnellen Schritten, beinahe wie auf Stelzen, und nahm hin und wieder einen Schluck aus einem Wasserschlauch. Lothlann folgte hinter ihm. Er wagte nicht, ihn anzusprechen und den ersten Eindruck zu riskieren. Dabei brannte es ihm doch unter den Nägeln! Er war voller Neugierde, mit was für einem Menschen er Leben und Arbeit teilen würde, umso mehr, als Randal soeben seinem Vater Parole geboten hatte. Hinter den vielen Falten, hinter dem listigen Funkeln von Randals Augen steckte eine Lebenserfahrung und Weltkenntnis, die Barthelme weit überlegen war. Randal wirkte nicht durch eine einschüchternde Präsenz wie sein alter Herr; er war ein Schlauer, geprägt durch jahrzehntelange Erfahrung am gräflichen Hof, der die Gesetze der Gesellschaft für sich auszunutzen wusste. Er bewegte sich zwischen oben und unten (meistens unten, freilich), konnte sowohl einen rauen Ton auffahren, als auch nach oben hin geschmeidig insinuieren. Aber all das konnte Lothlann nur erahnen, als er so vor sich hin rätselte, ging, und schweigend die Rückseite seines Meisters mit wissbegierigen Blicken durchlöcherte.

Auch Randal brach das Schweigen nicht. Er gedachte sich auf diese Weise Respekt bei seinem neuen Gehilfen zu verschaffen: Er, der Meister, bestimmte darüber, wann gesprochen wurde. Ein vorauseilendes Fraternisieren, ein vorschnelles Verwischen der Hierarchien schien für Randal, dessen Leben sich ganz im Ranggefüge rund um den Grafen erfüllte, nicht angebracht. Doch nach etwa einer Wegstunde wurde selbst dem gräflichen Kammerheizer das Schweigen offenbar zu eintönig. Vielleicht suchte er nach einer passenden, ranggemäßen und einseitigen Form der Kommunikation. Vielleicht trieb ihn aber auch nur das eintönige Schlapfen und Schlürfen von Lothlanns Holzschuhen zur Weißglut. Jedenfalls packte Randal seinen neuen Lehrjungen kurzerhand an den Schultern und meinte dann aufbrausend, ihn an die missglückte Szene in der Stube erinnernd:
„Ein stummes Ding ist das, was? Lann? Bist’ aufs Maul gefallen oder immer so stumm? Reden wirst' schon müssen, wenn dich ein Herr was fragt. Aber wennst’ vorerst nix reden willst, dann sing’ uns wenigstens was schönes! Also los, sing’ uns was!“
Lothlann beschloss, dass es besser war, sich dem Wunsch und dem festen Griff seines Meisters zu beugen. Randal ließ von ihm ab und schlenderte weiter, während Lothlann mit seinem hellen Stimmchen eines der Lieder anzustimmen begann, die sie oft bei der Feldarbeit gesungen hatten, um die Eintönigkeit zu brechen. Das schien Randals Stimmung wieder etwas aufzulockern. Er wirkte beschwingter, trank öfter aus seinem Wasserschlauch. Der feine Herr Kammerheizer hielt das auch gewiss für eine angemessene Form zu kommunizieren. Er hatte seinem Gehilfen einen Auftrag erteilt, und dieser führte ihn aus. So sollte es sein, so machte das Freude. Und dass der Gehilfe beim Singen unweigerlich einiges von sich preisgeben musste, während er als Zuhörer anonym blieb, gefiel ihm umso mehr. Und so gingen die beiden immer weiter, nun Lothlann vor Randal, der Dämmerung entgegen, begleitet von einem zittrigen Liedchen.

Dann begann es zu dämmern und ein Sturm zog auf. Das Tageslicht ließ sie im Stich, bevor sie Traubenberg erreichen konnten. Der langsame Tod der Sonne ließ die vergilbten Herbsteindrücke im Zwielicht erglühen. Die Schatten griffen immer weiter aus, verschluckten die Schönheiten des Tages. Der Wind fuhr in die Herbstwiesen und peitschte das Laub. Die Wolken zerrissen im Halblicht, türmten sich bedrohlich auf, warfen Dunkelheit auf unsere beiden Wanderer, kündeten vom ewigen Krieg Shaars und Selunes. Alles veränderte sich, sie überschritten die Schwelle zwischen zwei Welten. Randal forderte mit einem besorgten Blick von seinem Gehilfen ein weiteres Lied, um die Schatten zu vertreiben, die sich allmählich sein Herz schlichen. Als Lothlanns Stimme trocken und krächzend einsetzte, ließ Randal ihm einen Schluck Schnaps aus dem Wasserschlauch angedeihen.

Sie gingen immer weiter, das Lied wurde immer schiefer. Die Dunkelheit zerrte an ihnen. Unter Lothlanns Füßen verwandelte sich das Laubwerk, tagsüber ein warmer Blätterpolster, in kaltes, feuchtes Schwarz. Er setzte auf gut Glück ein Bein vor das andere. Die Welt entrückte. Geräusche, Äste, Bäume, Felder, wurden von den Göttern beseelt. Unheimliche Kräfte ergriffen von der Welt Besitz. Die Übermacht ließ ihn wanken und schwinden. Und hier, am Weg von Windberg nach Traubenstein, sehen wir Lothlann einen Schlüsselmoment durchleben. Er realisierte, dass er sein zu Hause hinter sich gelassen hatte, und fand zum ersten Mal die Freiheit sein Schicksal zu reflektieren. Alles legte sich in diesen Momenten schwer auf seine Schultern. Erst hier manifestierte sich Barthelmes wahre Prüfung. Er sah den leeren Blick seines Vaters vor sich. Talos’ Sturmheulen trug Barthelmes donnernde, unheilvolle Stimme von der Ferne an ihn heran. „Lothlann!“ schlug sie ihm ins Gesicht, trieb sie ihn an, dröhnte sie laut in seinem Kopf. Das eiserne Schweigen des Abendmahls fuhr ihm eiskalt in die Glieder, er spürte Barthelme im Genick. Die wissenden Blicke seiner Stiefbrüder legten sich auf ihn, hielten ihm ein unangenehmes Geheimnis vor. Und schließlich sah er Ruben vor sich. Ein aufmunterndes Lächeln. Doch Ruben entschwand. Lothlann konnte ihn nicht mehr deutlich vor sich sehen, Cyric legte schwarze Schleier über das Bild und ließ Lothlann blind und allein zurück. Sorias Kopf verschwand in der Luke.

Und es war in diesen Momenten, als Lothlann unbemerkt mit den Tränen rang, dass das Dunkle und das Helle um seine Seele stritten. Eine schwarze Klaue griff nach seinem Herz. Und Lothlann kämpfte und kämpfte. Und eben, als er den Widerstand aufgeben wollte, bekam er unerwartete Hilfe. Im letzten Dämmerlicht kreuzte eine Schafherde ihren Weg. Die Lämmer flossen an den beiden vorüber wie ein nicht enden wollender Strom. Die Böen zerrütteten und durchkämmten ihre Wolle, vermochten den dicht zusammendrängenden Tieren jedoch nichts anzuhaben. Ruhig und unbeirrbar flossen sie dahin, als wären sie eins, unbeeindruckt von der drohenden Dunkelheit, der schleichenden Kälte und den Peitschenhieben des Sturmes. Dann erschien er. Der Hirte. Ein hagerer, spindeldürrer Greis mit eingefallenen, glasigen Augen. Er musste blind sein. Obwohl er kaum mehr als Haut und Knochen war, stand er mit unwirklicher Ruhe im Sturm. Langsam, in seiner eigenen Zeit, folgte er der Herde, setzte jedem seiner Schritte mit Bedacht den Hirtenstab voran. Randal hatte zum Sprechen angesetzt, jedoch verschlug es ihm augenblicklich die Sprache. Der Hirte hatte etwas unheimliches. Er schien ihnen nicht von dieser Welt. Randal machte einen verunsicherten Schritt zurück. Der Greis blieb mitten am Weg stehen und warf mit seinen toten Augen einen Blick zurück zu einem Nachzüglerschaf, das eilig über den Weg stolperte. Bis dahin hatten sie nicht einmal gewusst, ob der Alte sie überhaupt bemerkt hatte. Doch dann fuhr Lothlann der Schrecken ein. Der Hirte hielt noch einen Moment inne, als das Schaf bereits zur Herde aufgeschlossen hatte. Dabei drehte er den Kopf um seinen weit aufgerissenen, stummen Blick geradewegs auf Lothlann zu richten. Es war kein Zufall. Der Greis sah ihm direkt in das Innerste. Was immer es war, dem der der Kammerheizergehilfe hier begegnete, es wusste mehr von ihm als er selbst. Durch den Blick glaubte Lothlann sich selbst zu verraten. So sehr er sich aber auch vor der Präsenz fürchtete, er konnte seine Augen einfach nicht von ihr abwenden, war wie hypnotisiert.

Dann streckte ihm die Hirtenerscheinung für einen Augenblick die offene, dürre Hand entgegen. Ein vergilbtes, rötliches Band flatterte um das Gelenk im Wind. Die Geste erfasste Lothlann unvorbereitet. Sie schickte einen einen warmen, beinahe heißen Schauer über seinen Rücken. Für einen Moment lang gab es nur Lothlann und den Hirten, keinen Sturm, keine Zeit. Lothlann vergaß sich selbst. Sie befanden sich außerhalb des Gefüges, die Zeit hatte ausgesetzt. Vom Scheitel bis in die Finger- und Zehenspitzen entfaltete sich die sonderbare Wärme. Die stechenden Blicke, die Stille, die Kälte – alles musste vor dem Gebot des Hirten weichen. Lothlann wäre an dieser Stelle beinahe überwältigt zu Boden gefallen, hätte er nicht die Geisterhände erspürt, die ihn stützten und trugen. Er blinzelte gegen die gläsernen, starren Augen der Hirtenerscheinung an. Gütiges Licht ging von ihr aus, fuhr Lothlann direkt in die Seele. Die schwarze Hand ließ von seinem Herzen ab. Er wurde von einem unbekanntem Hochgefühl ergriffen. Dann führten die göttlichen Kräfte den aufatmenden Lothlann wieder sanft zurück an die Zeit. Sie ließen ihn ermutigt gehen. Der Hirte zog seine Hand langsam zurück. Lothlann begann den Sturm wieder zu spüren. Aber er vermochte nicht mehr in ihn zu dringen, pfiff und sauste um seine neue zweite Haut, sein Wollkleid herum, prallte von ihm ab. Der Hirte ging in bedeutungsschweren Schritten seiner Herde hinterher und verschwand ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Nun erst konnten sich die beiden Wanderer besinnen. Randal fasste sich allmählich wieder und meinte etwas konsterniert
„Siehst du? … Lann?“
Er musste kurz verdauen und überlegen, welche Weisheit er seinem Gehilfen mit auf den Weg gab:
„Jetzt bist’ was besseres… Was besseres als dieser unheimliche Kerl da. Bauerngesocks.“ Lothlann schloss daraus, dass Randal sein Erlebnis nicht geteilt hatte. Sein Meister war bereits wieder einige Meter vorausgegangen. Wohlig umwärmt eilte Lothlann hinterher. Und der Kammerheizergehilfe konnte den Beistand des gebrochenen Gottes wirklich brauchen. Zwei Wegstunden standen ihnen noch bevor und die Nacht verschlang sie. Die Welt drehte sich immer schneller, was wohl nicht zuletzt dem Schluck aus Randals Schnapsschlauch verschuldet war. Alles wurde schwarz, und selbst Randal wagte nicht mehr, Lothlann zum Singen aufzufordern. Was ihnen zuvor noch Mut gemacht hatte, konnte nun nur mehr unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie ziehen. Man wollte nichts riskieren, nichts herausfordern. Es war genug, den restlichen Weg in tiefschwarzer Nacht unbeschadet zu überstehen. Lothlann folgte den Geräuschen von Randals Schritten wie in einem Albtraum. Die Wälder um sie herum schienen zu arbeiten. Äste griffen nach ihnen aus. „Herr! wartet auf mich!“ Randal hatte keinen Mut mehr zu antworten, seine Schritte wurden kaum langsamer.

Dann endlich erschienen ihnen schwache Lichter in der Ferne. Der Geruch von Feuerholz drang an ihre Nasen. Schloss Traubenstein. Sie erreichten eine steinerne, mannshohe Mauer und ein Tor. Randal schlug fest dagegen. Ein Schlüsselbund schepperte, ein Hund schlug an, der Torhüter öffnete ihnen. Der völlig übermüdete Lothlann schleppte sich mit letzter Kraft hinein. Randal führte ihn zu seiner Unterkunft in einem Nebengebäude an der Mauer und wies ihn auf eine mit Stroh ausgelegte Ecke, wo sich der Neuankömmling sogleich einrollte und in einen tiefen Schlaf fiel.


Bild

Musikvorschlag 1 (Vinicio Capossela, Job - sehr passend, die Geschichte von Hiob passt perfekt zu "Barthelmes Prüfung" ;) ).
Musikvorschlag 2 (entrückt, vielleicht das Liedchen für die Feldarbeit?)
Und weils so schön ist, ein Eindruck von Lothlanns geborgenem Hochgefühl: Musikvortschlag 3 (Capossela for president!)

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Zuletzt geändert von Lothlann am So 10. Feb 2013, 11:56, insgesamt 1-mal geändert.

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BeitragVerfasst: Sa 9. Feb 2013, 20:49 
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V. Im Lichte der Herrschaft

Schloss Traubenstein beherrschte und überblickte seine Umgebung ganz majestätisch: die Gesinde- und Nebenhäuser auf der einen, ein weitläufiges, von der Mauer eingefriedetes Jagdgebiet auf der anderen Seite. Die sandsteinernen Fassaden des Schlosses übertrafen in ihrer schlichten Erhabenheit den Gianntiah-Tempel in Windberg bei weitem. Die hohen Fenster waren von anmutigen Gesimsen bekrönt, an deren Ecken sich das weiche Herbstlicht sammelte. Pilaster, Ziernischen und Friese warfen Schatten in tausend Facetten auf den warmen Stein. In seinen Ebenmaß wirkte das Gebäude, wie es im rötlichen Sonnenschein aufragte, auf Lothlann geradezu engelhaft. Am Hauptportal waren Laubwerk und Voluten mit höchster Perfektion in die Archivolten gemeißelt. Zwei großzügige Steintreppen strebten in hoheitsvollem Schwung aufeinander zu um sich vor dem Hauptportal zu vereinen und eine Terasse zu bilden, aus deren Mitte ebenerdig ein Zierbrunnen entsprang. Lothlann konnte sich das Plätschern vorstellen, mit dem der Brunnen im Sommer die sembische Hitze milderte. Doch momentan spie der steinerne Umberleekopf kein Wasser, und im Becken war statt Wasser nur Laub. Und auch alle Fensterläden des Anwersens waren geschlossen. Denn der Graf weilte mit seiner Familie zu dieser Zeit noch in der Stadt, in Saerloon. Wie Lothlann in Erfahrung brachte, wurden die Herrschaften erst in zwei Zehntagen erwartet. Aber dann würde die gräfliche Familie den ganzen verbliebenen Herbst über zur Jagd in Traubenstein verbleiben, und vermutlich sogar den Winter hindurch, was außergewöhnlich war, taten es die meisten Standesgenossen doch gerade umgekehrt und verbrachten den Winter in den Küstenstädten mit ihrem verträglicheren Klima.

Lothlann traf bei seiner Ankunft auf dem Schloss also nur einen Teil des gräflichen Personals an. Neben dem Kammerheizer lebten eine alte Frau, ein Torhüter, zwei Stallknechte sowie eine Köchin mit ihrer Gehilfin in den Gesindehäusern vor dem Schloss. Der Burggraf (der Verwalter des Schlosses in Abwesenheit des Grafen und zugleich oberster Amtsmann der Herrschaft) lebte als einziger mit seinem Diener und Sekretär in einer Stube im eigentlichen Schloss selbst. Lothlanns Begegnungen mit diesen Menschen sind im einzelnen nicht zu beschreiben. Es sei aber gesagt, dass für die Bedienten des Grafen ein neues Gesicht keine außergewöhnliche Erscheinung war. Das Kommen und Gehen von Knechten und Mädgen war man gewöhnt.

In den ersten Tagen auf Schloss Traubenstein wurde Lothlann mit seiner neuen Umgebung vertraut. Er teilte sich eine mittelgroße Stube mit Randal und einem ausgewachsenen schwarzen Hund, der in der anderen Ecke des Zimmers sein Strohbett hatte. Wie die Bauern der Umgebung hatte nämlich auch Randal einen Jagdhund zu pflegen, der nur dann für die Herrschaft zum Einsatz kam, wenn diese zur Hetzjagd ausritt. An der gegenüberliegenden Wand der Stube stand ein Bett. Vom Bettvorhang verborgen, lag dort eine ältere Frau krank und schwach darnieder. Die meiste Zeit verhielt sich Randal so, als wäre sie gar nicht da. Er tat bloß das nötigste, um sie zu pflegen. Er wechselte nie ein Wort mit der Frau wenn Lothlann im Raum war. Lothlann rätselte, ob die Frau vielleicht stumm war. Selbst als er sich in seiner Ecke schlafend stellte, kamen keine Worte über ihre Lippen. Welche Beziehung Randal und die Frau verband, blieb ihm daher ein Rätsel. Große Zuneigung dürfte zwischen den beiden jedenfalls nicht geherrscht haben. Wenn Lothlann Randal heimlich beobachtete, wie er sie pflegte, wirkte er nie liebevoll. Er tat, was getan werden musste. Der Kammerheizer selbst schlief auch nicht mit ihr in einem Bett, sondern nickte stets sitzend ein, um am nächsten Morgen mit dem Kopf auf der Tischplatte zu erwachen. Und war Lothlann alleine mit der Frau in der Stube, so schien sie bestädig zu schlafen, oder er wagte es nicht, den Bettvorhang zur Seite zu ziehen. Sie blieb ihm ein Rätsel.

Am ersten Tag erteilte Randal seinem frischen Gehilfen zwei Lektionen. Zuerst gab es eine Einführung in die gräfliche Familie und das verfeinerte Verhalten, das man in ihrer Anwesenheit an den Tag zu legen hatte. Er führte Lothlann hinaus vor die Herrschaftsmauer und ließ ihn auf das Wappen über dem Torbogen blicken. Der Torhüter, dessen Reich Randal und Lothlann betreten hatten, beäugte Lothlann argwöhnisch, während Randal ihn mit der Adelswelt vertraut machte. Randal tat dies selbstverständlich in der angemessenen Form – einseitig. Er hielt seinem Schüler einen Monolog. Jedes Wort hatte höchste Autorität. Randal konnte es sich gar nicht anders vorstellen: jeder Laut, der seine Lippen verließ, musste sich direkt in den Kopf seines Gehilfen einbrennen. So war es richtig und bereitete ihm Freude. Und da Lothlann ihm keinen Widerstand leistete und ihm konzentriert folgte, blühte Randal während seiner Ansprache auf. Ja, man konnte ihm ansehen, wie sehr er sich mit dem Vorgetragenen identifizierte, wie überzeugt er von der gräflichen Familie sprach. Er rezitierte wie aus einem Buch und spielte seine Rolle als Lehrmeister und Kenner der Adelswelt gleichsam steif und makellos.

Die Grafen von Traubenstein und Niederhain führten den Namen ihrer ersten Herrschaft in der linken Hälfte des Wappens: Drei weiße Kugeln als Weintrauben auf rotem Hintergrund – Das stand für die Herrschaft Traubenstein, zu der auch das Dorf Windberg, Barthelmes Hof und Lothlann gehörten. In der rechten Wappenhälfte symbolisierte ein schwarzer Ast auf weißem Grund die Herrschaft Niederhain. Die gräfliche Familie hatte fünf Mitglieder. Zuerst freilich Graf Eldon Hyacinth von Traubenstein und Niederhain höchst selbst. Man hatte ihn mit Eure Excellenz zu adressieren. Dann seine Gemahlin Tessele Alaine von Traubenstein etc. etc., die als Allergnädigste Herrin zu titulieren war. Die beiden Söhne, beide galt es mit Eure junge Gnaden zu würdigen, waren der zwanzigjährige Randin Sixt sowie der siebenjährige Estorn Veith. Schließlich die neunzehnjährige Tochter Andalie Miri, der eine Junge gnädigste Herrin zustand. Lothlann hatte bereits jetzt aufgegeben, aber es ging noch weiter. Der Hauskleriker, ein Mann der Deneir, war die Höchstwürdige Weisheit. Die Kammerdiener, Kammerzofen, der Stallmeister, der Jagdmeister – sie alle würden mit dem Grafen ankommen – waren ihm unterschiedslos gnädige Herren und Damen. Und der Burggraf wollte in Abwesenheit des Grafen mit Eure Gnaden tituliert werden, in dessen Anwesenheit aber nur mit einem Gnädigen Herrn. Dem Burggrafen hatte er, ebenso wie den Mitgliedern der gräflichen Familie und dem Kleriker, stets mit der angemessenen Ehrfurcht zu begegnen. In ihrer Anwesenheit galt es die Arbeit zu unterbrechen, aufzustehen, den Hut zu ziehen, und den Kopf zu senken. Reden war nur gestattet, wenn man angesprochen wurde, in welchem Fall auch der Kopf zu heben war, der Blick jedoch zu senken. Und die korrekte Adressierung nie vergessen! Auf keinem Fall durfte man einer der genannten Personen den Rücken zukehren. In den richtigen Anreden der Herrschaften, führte Randal weiter aus, bildete sich das Gefüge der ganzen Welt ab, eine wohl geordnete Welt, von der die ebenmäßigen, geraden Pilaster der Schlossfassade einen Eindruck vermitteln sollten. Eine falsche Adressierung ließ das Gesamte erzittern, und er sollte sich unterstehen, die Grundmauern des Palastes Siamorphes mit solchen Erdbeben zu gefährden. Randal gab nicht ohne Stolz zu verstehen, dass er bereits fünfunddreißig Jahre im treuen Dienste des Grafen stand, ihm zunächst als Leibtrabant gedient hatte – ein Leibwächter, wie Lothlann schlussfolgerte – und danach, als seine Kräfte nachzulassen begonnen hatten, als Kammerheizer.

Dem Rang der Dinge entsprechend, kam das Grafengeschlecht zuerst, die Anleitungen zur Arbeit danach. Mit pädagogischem Spürsinn dachte Randal bei sich, dass ein wenig Einschüchterung nicht schaden konnte. Deshalb ließ er seinen jungen Helfer wissen, dass der Schlendrian und das einfache Bauernleben für ihn nun vorbei waren. Die Position im Abglanze eines Grafengeschlechts musste verdient werden. Die Belohnung für die Mühen war eine höhere, ästhetisch verfeinerte Form des Daseins - dessen strahlendstes Exempel hatte ja Lothlann gerade vor Augen. Nicht alle von den Aufgaben eines Kammerheizers konnte sich der frische Gehilfe auf einmal merken. Er würde mit Randal regelmäßig das von den Bauern herangetragene Feuerholz mit einem Wagen aus Windberg holen. Das Einheizen selbst war stark von der Anwesenheit der Herrschaft abhängig. War der Graf und seine Familie nicht zugegen, so mussten sie nur dem Burggrafen einheizen und außerdem der Küche, die ebenfalls im Schloss gelegen war, das Holz zutragen. War der Graf jedoch anwesend, gab es alle Hände voll zu tun. Jeden morgen galt es vor Sonnenaufgang Holz ins Schloss zu tragen. Der Holzstapel befand sich bei den Gesindehäusern etwa hundert Meter vom Schloss entfernt, schließlich wollte man keinen Brand riskieren. Im Schloss galt es dann zumindest drei Kamine und Öfen zu beheizen. Darunter die Gelehrtenstube, wo der Kleriker die gräflichen Sprösslinge unterrichtete und sonstige Geschäfte für den Grafen erledigte, dann freilich das Herrschaftszimmer des Grafen selbst, und schließlich den Ofen im Damentrakt für die Gräfin, die junge Herrin und die Kammerzofen. Daneben oblag ihnen wieder das Holz für die Küche, und auch Heizerdienste auf Anfrage der Kammerdiener und Kammerzofen, etwa wenn eine Herrschaft ein Bad zu nehmen gustierte. Natürlich galt es auch ständig zu prüfen, ob alles noch brannte, mitunter bis in die Nacht hinein, falls ein gräfliches Familienmitglied länger aufblieb. Randal selbst betonte, bereits aus dem Geruch und der Farbe des Rauches, wie er aus den einzelnen Schornsteinen quoll, vieles herauslesen zu können. Da staunte Lothlann nicht schlecht. Selbstverständlich war es ausgeschlossen, dass er beim Einheizen und Holztragen Mist machte. Er musste nach dem Einheizen kehren, achtsam sein, und keinesfalls die Herrschaftstreppe beschmutzen. Er hatte sich strikt an die Dienertreppen zu halten, die über kleinere Seiteneingänge ins Schloss führten. Lärmen war dabei streng untersagt, zumal die Herrschaften oft noch schlafen würden. Die Scheite mussten gelegt, nicht geschmissen werden. Randal erwähnte auch, dass nicht erwähnt zu werden brauchte, dass er achtsam mit dem Feuer umzugehen hatte. Und das Holz durfte auf dem Weg vom Stapel zum Schloss keinesfalls nass werden. Besonders den feinen Damennasen war der Geruch von nassem Feuerholz und der Rauch unerträglich. Falls der Graf in seinem Anwesen Gäste empfing, setzte natürlich der Ausnahmezustand ein, musste alle Öfen im Schloss rund um die Uhr brennen. Wie er es in der Stadtresidenz in Saerloon zu halten hatte, würde Randal ihm erklären, wenn es so weit war. Daneben gab es auch Dienste, die er als sein Gehilfe unter seinem Dach zu leisten hatte. Die Beheizung der Stube, Wasserholen, Botengänge, und auch um den Hund würde er sich hin und wieder kümmern müssen. Überhaupt kündigte er Lothlann auch an, dass er einige Jagden der Herrschaft miterleben würde, bei der Aufstellung der Plachen mithelfen oder die Hasen treiben müssen.

Nach der gehaltenen Ansprache ging es sofort an die Arbeit. Dass Randal niemand war, der Zeit vertrödelte, konnte sich Lothlann bereits am ersten Tag unschwer ausmalen. Aber in dieser Hinsicht war Randal für Lothlann immerhin durchschaubar und berechenbar. Dass sich die Liebe zur Perfektion und das Fiebern um gräfliche Gunst in seinem Meister aber auch eine andere Seite hervorgebracht hatten, eine unheimliche Kehrseite der höfischen Verfeinerung, das hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht erahnen können.

Musikvorschlag 1 Am Anfang eine sehr schmissige Version. :)

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: So 10. Feb 2013, 22:31 
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VI. Im Schatten der Herrschaft

Randal war besessen und gefangen. All sein Verlangen richtete sich auf das, was er für das einzig Edelmütige, Hohe, Schöne und Wahre hielt. Er gierte nach Prunk, nach verspielten Gärten, höfisch umhegter Musik, kunstvoll abgestuften Titeln, blitzenden Krösen, raffinierten Verbeugungen und Kratzfüßen, nach allen Verkörperungen von Rang und Majestät. Randals Kopf bildete unentwegt in tausend vollendeten Formen die ideale Ordnung ab. Alles beugte sich dem Zentrum, einer einzigen Spitze zu, und alles hatte seine angestammte, gerechte Position in der Welt. In all seinem Tun strebte Randal nach der Verwirklichung dieses Prinzips. Es verlangte ihn danach, die ideale Ordnung seines Kopfes in die Wirklichkeit ausgreifen zu lassen. Denn aus der kompromisslosen Formung der Realität durch die Idee entsprang alles Schöne und Gute.

Das musste sich auch in der Art zeigen, in der Randal seiner Berufung nachkam. Wo immer er war, bildete Randal das Zentrum der Perfektion. Kein Kammerheizer auf Faerûn konnte es mit Randals Vollendung aufnehmen – auch dürfte es kaum einen danach verlangt haben! Keiner trug Holzscheite mit so vornehmer Gravität und doch so effizient in die Schlösser wie er; Keine Parkett in Faerûn waren nach dem Einheizen sauberer als seines; Kein Feuer wurde mit weniger Rauch entzündet als seines. Schnelligkeit und Gründlichkeit bildeten nur eine Säule seines Tuns. Perfektion verlangte einfach nach Unterordnung, Zurücknahme, Aufopferung, Sparsamkeit und Hingabe. Diese Tugenden des Hofdienstes waren aber bloß die Vorraussetzung und Grundlage für die Form, die über allem stand. Die Verrichtung seines Dienstes ohne ästhetische Überhöhung machte für Randal keinen Sinn. Wenn sie nicht abgebildet wurde, verlor seine Ordnung jeglichen Sinn.

Und so breitete Randal auch seine lichte Aura der Vollkommenheit in konzentrischen Kreisen um sich herum aus. Lothlann gehorchte einfach nur, wenn der Meister ihn anwies, einige Schritte von ihm Abstand zu nehmen. Der Gehilfe hatte seinen Platz im Unvollkommenen einzunehmen. Lothlann fragte auch nie nach, warum sein Meister nie mit ihm zusammen Arbeiten verrichtete. Entweder erledigte Lothlann etwas, oder der Meister. Zwei Köche an einem Gericht, noch dazu zwei Köche unterschiedlichen Ranges, gab Randals Ordnung nicht her. Im Ergebnis würde man die überlegene Hand des Meisters nicht mehr von der plumpen Hand des Lehrlings unterscheiden können – eine unheilvolle, hässliche Mischung der Unvollkommenheit und der Kompromisse!

Nun kann man sich vorstellen, dass Randals Leidenschaft auch sehr ambivalente, bisweilen dunkle Blüten trieb. Der Zwang der Vervollkommnung gereichte Lothlann eigenartigerweise nicht zum Nachteil. Solange er sich nämlich in Randals Ordnung einfügte, solange er seinen Platz einnahm, ließ ihn Randal straffrei unvollkommen sein. Ja, mehr noch, Lothlann musste unvollkommen sein, denn die Perfektion gehörte ganz allein Randal. Sie durfte nur ihm schmeicheln! Lothlann fügte sich weise, oder sollen wir eher sagen intuitiv, den Eigenarten seines Meisters. Er verstand es bald, nicht nur gehorsam zu sein, was er aus Furcht ohnehin war, sondern die Gehorsamkeit zu kultivieren. Er nickte artig, hängte lieber zu oft als zu selten ein „Herr“ an seine Antworten, hielt stets den gebührenden Abstand und zeigte sich gegenüber Randal demütig und bescheiden. Nur solange er die Rolle des Gehilfen gut spielte, konnte Randal auch die Rolle Meisters spielen. Und das schien ihm die Voraussetzung für sein Wohlergehen zu sein. Er wollte nicht herausfinden, wie Randal auf Störungen seiner Ordnung reagieren würde.

Und damit ist Randals wundester Punkt angesprochen. Denn ganz unweigerlich drängte sich hin und wieder eine Störung auf äußerst schmerzvolle, ja traumatisierende Weise in Randals perfekte Welt. Randal kämpfte mit einer großen Inkonsistenz. Das Gefüge der Welt bestand für ihn zwar sehr wohl aus einem Oben und einem Unten. Doch insgeheim hätte Randal das Niedrige lieber ausgemerzt. Er wollte nur die Spitzen, nur die schönen Blüten kappen, und sie alleine in die reinsten Wässer betten, damit sie den bezaubernsten, edelsten Duft entfalten konnten. Seine vollkommene Welt brauchte weder hässliche, dunkle, muffende Erde, noch anderes hässliches Beiwerk. Pflanzen erkannte man schließlich vor allem an ihrer Farbe, ihrem Duft, ihrer Form, wie sie sich so einzigartig in der Blüte manifestierte. Eine Welt aus Blüten – sie wäre vollkommen und schön gewesen. Und so entwickelte Randal aus seiner Leidenschaft für das Schöne und Hohe einen Hass auf alles Hässliche und Niedrige. Sein Zorn äußerte sich auch im Umgang mit seinem kranken Eheweib, das ihn beständig an seine eigene Misere erinnerte. Er bat den Grafen weder um ein Gnadengeld noch um eine Gnadenheilung. Er informierte ihn nicht von der Krankheit seiner Frau. Er wollte sie weghaben. Doch den letzten Schritt wagte er nicht.

Es kamen auch immer wieder verhängnisvolle Momente, in denen Randal das Niedrige in sich selbst erkannte. Der Kammerheizer, der nach fünfunddreißig Jahren im Dienste eines hohen Herrn sich besser in der Welt des Schönen auskannte, als mancher Adelige, hatte schwer daran zu tragen, dass er selbst nur am äußersten Rande an dieser Welt teilhatte. Er war Kammerheizer, nicht Ritter. Kammerheizer, nicht Freiherr. Kammerheizer, nicht Graf. Er hauste in einer Stube in einem ärmlichen Gesindehaus neben dem Schloss, nicht im Schloss. Und er musste sich diese Stube, die seiner Aura kaum ausreichend Platz ließ, mit einem Hund, seinem alten kranken Weib und einem verlausten Bauerntölpel teilen. Randal hatte Schwierigkeiten, sich als majestätische Blüte zu begreifen. Er imitierte nur. Er war höchstens ein blütennahes Blatt, bloß eintöniger grüner Hintergrund, der die Blüte umso kontrastreicher erstrahlen ließ.

Andere hätten in dieser Lage an der Ordnung zu zweifeln begonnen. Nicht aber Randal. Er zweifelte an sich selbst. Seine dunklen Erkenntnisse überwältigten ihn immer wieder, zerrissen ihn förmlich. Es waren Momente, in denen Randal seinem jungen Gehilfen zutiefst unheimlich wurde. Meistens geschah es abends, wenn Randal Wein getrunken hatte. Er begann dann nervös auf dem Sessel zu rücken, schnaufte, raufte sich die verbliebenen Haare, riss sich bisweilen sogar den Kragen auf, als zweifelte er an allem, was er tagsüber so überzeugt zelebriert hatte. Eines Abends, als es ihn besonders hart erwischte, schleuderte er mit zornesroten Augen den Kelch vom Tisch. Der Hund schlug an, und Lothlann blieb mucksmäuschenstill, wagte sich nicht zu regen, und wusste, dass er Randals intimes Geheimnis besser für sich behalten würde. In diesen Stunden wurde Lothlann außerdem klar, dass Randal ohne Skrupel sein würde, wenn sich ihm eine Möglichkeit bieten würde, den ihm zustehenden Platz in der Welt einzunehmen. Denn wer konnte besser über Randal richten, als Randal selbst, als der Hüter der Ordnung?

Randals Zweifel waren mit dem Alter schlimmer geworden. Er selbst merkte, dass sich mehr und mehr Fehler in seine Arbeit schlichen. Er konnte nicht mehr so aufrecht das Holz tragen. Das Bücken und das Greifen bereitete ihm Schmerzen. Fehler der Form, Fehler des Inhalts, Fehler, die ein Meister wie er nicht machen durfte, Fehler, die sonst niemandem aufgefallen wären, trieben ihm panisch den Schweiß auf die Stirn. Und je mehr er die perfekte Ordnung durch sich selbst gefährdet sah, umso mehr unterwarf er sich der Ordnung, umso mehr umhätschelte er sie und trachtete danach, sie vor sich selbst zu beschützten. Randal drohte seinen Grund in der Welt zu verlieren.

Zum Glück aber gab es Lothlann, und zum Glück gab es die Bauernwitwe. Ja, die Bauernwitwe. Randal bekam regelmäßig an den Abenden Besuch von einer Bauernwitwe aus der Umgebung. Der Torhüter war eingeweiht und ließ die Witwe ein. Randal fand Gefallen an ihr, verstand sie es doch, den Höfling und Edelmann in ihm geschickt und verführerisch anzusprechen. Sie ließ ihn ganz in seiner Rolle aufgehen, gab ihm Gelegenheit, die Blüte zu spielen. Wenn sie ihn mit „Euer Gnaden“ ansprach, schmolz er dahin, und vergaß darüber sogar, dass sie eine Bauerswitwe war. Öfters endete es fröhlich, dem Eheweib und Lothlann zum Trotz. Die Witwe wusste zwar, dass Randal sie nicht heiraten würde, doch schien es ihr recht zu sein, solange Randal auch materiell den kleinen Edelmann gab. Nie ging die Witwe ohne einen Laib Brot, ein wenig Fleisch, Käse oder etwas Wein von ihm.

Nicht ganz unähnlich verhielt es sich auch mit Lothlann. Auch in ihm fand der Kammerheizer jemanden, dem er den großzügigen Edelmann und Meister vorspielen konnte. Wie bereits erwähnt hütete sich Lothlann tunlichst davor, in dieser Beziehung bei Randal anzuecken. Daher konnte sich Randal von der zunehmenden Makelbehaftetheit seines Tuns ablenken, indem er an Lothlann delegierte und ihn belehrmeisterte, oder Knickse der Bauernwitwe gnädig zur Kenntnis nahm.

Dennoch befand sich Lothlann in einer ungleich gefährlicheren Situation als die Witwe. Während Randal der Bauersfrau nämlich seine Rolle konsistent vorspielen konnte, weil ihre Besuche nie unerwartet kamen, lernte Lothlann durch die gemeinsame Stube zwangsweise auch den unvorbereiteten Randal mit seinen Höhen und Tiefen kennen. Lothlann wusste von Randals Geheimnissen. Er sah zu, wenn er sein krankes Weib ohne jegliche Wärme pflegte; Er hörte zu, wenn die Witwe auf Besuch kam; Er wusste von den Eruptionen der Wut und Zweifel. Und er wusste, dass Randal sich selbst und ihn nicht aus Sparsamkeit beim Essen kurz hielt, sondern um die Witwe entlohnen zu können. Kurz: Er kannte einen anderen Randal als den treuen, gefestigten Obristkammerheizer bei den Grafen von Traubenstein, der ihm tagsüber den strengen aber gerechten Lehrmeister vorgaukelte. Aber er behielt das Geheimnis für sich.

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Mo 11. Feb 2013, 16:48 
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VII. Illmaters Purgatorium(1/2)

Es war an einem Abend, etwa einen halben Zehntag vor der Ankunft der gräflichen Familie. Die Bauernwitwe stattete Randal einen ihrer nächtlichen Besuche ab. Während die beiden aßen und sich mit doppelbödigen Anspielungen lockten, saß Lothlann, um nicht weiter zu stören, mit Brot und etwas Schinken in seiner Strohnische. Auch er bekam immer einen Anteil, wenn die angesparten Witwen-Reserven geplündert wurden.

Als der Abend bereits fortgeschritten war, ging dem Pärchen das Brot aus. Also beorderte Randal seinen Gehilfen vor sich und trug ihm auf, Brot zu holen. Lothlann marschierte zum Schloss hinauf und fand die nächtliche Küche verlassen vor. Es war niemand da, den er um das Brot bitten konnte. Vor allem die Köchin Gretia nicht, die ihm in den beiden vergangenen Zehntagen seit seiner Ankunft stets sehr freundlich begegnet war und die ihm bestimmt ausgeholfen hätte. Also machte Lothlann im Mondschein einen herrenlosen Laib ausfindig und traf eine leichte Entscheidung. Er beschloss, dass es nicht ratsam war, ohne Brot zurückzukehren, das Schäferstündchen zu unterbrechen und seinen Meister aus der Rolle zu zwingen. Und der Köchin hätte er das Geheimnis des fehlenden Brotes früh morgens anvertraut und sie hätte es verstanden. Also packte er das Brot und machte sich auf den kurzen Rückweg. Dass er dabei nicht widerstehen konnte, sich selbst mit einigen Stücken für den Weg zu stärken, ist nur menschlich. Keine hundert Meter waren es bis zu den Gesindehäusern.

Nun wären alle Überlegungen gewiss richtig gewesen und aufgegangen, wenn Lothlann nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre. Er fuhr heftig zusammen. Unmittelbar vor ihm schälte sich eine Gestalt aus der Finsternis. Er erkannte die groben Gesichtszüge des Torhüters. Gorlan. Das war keine Entwarnung, ganz im Gegenteil. Gorlan partouillierte für gewöhnlich nicht im Dunkeln zwischen Schloss und Tor. Er trug doch stets eine Laterne mit sich. Außerdem hatte um diese nachtschlafene Zeit für gewöhnlich seine Patrouillen bereits eingestellt.

Bild

Es war eine unwirkliche Begegnung, und Lothlann fiel in diesem Moment nichts besseres ein, als Gorlan im Dunkeln mit einem „Guten Abend, Herr“ zu grüßen. Gorlan hörte den vollen Mund sprechen, hielt weder an, noch grüßte er zurück. Er ging mit kalter Gewissheit auf Lothlann zu und packte ihn am Kragen. Lothlann wehrte sich mäßig, während der Torhüter ihn nach den Beweismitteln abtastete, die in Form des Brotlaibs auch schnell gefunden waren.

„Räudiger Dieb!“ schnarrte Gorlan mit der Freude einer erfolgreichen Jagd in der Stimme. Während Lothlann, unglücklicherweise mit vollem Mund, lamentierte, dass er das Brot im Auftrag seines Meisters geholt hatte, zog Gorlan ihn an den Haaren mit sich, zurück zu den Gesindehäusern.

„Dieb und Lügner! Willst’ sagen, dein Herr Meister hat dich zum Stehlen angestiftet?!“
Lothlann konnte sich in seiner Aufregung kaum besinnen. "So" konnte man das nicht sagen.
„Nein, Herr!“ „Er hat mich gebeten!“ „Befohlen?!“ „Doch, Herr!“
„So ist’s recht! Lüg, lüg, lüg! Lüg nur daher was du willst! Und sag' mir wennst fertig bist. Dann such ich mir eines deiner Geschichtlein aus! Ha, wie gefällt dir das?“
„Ich weiß nit, Herr“
„Herr, Herr, Herr!“ äffte Gorlan ihn nach und gab ihm einen Ruck. „Glaubst du etwa, dass dir das hilft? Ich bin nicht dein jämmerlicher Herr Kammerheizer.“

Der unglückliche Gehilfe hatte in dieser Situation freilich nicht den Kopf, um sich darüber zu wundern, warum man ihn in die Richtung der Gesindehäuser, und nicht in die Richtung des Burggrafen zum Schloss stolpern ließ, der von derartigen Malefiztaten eigentlich zu informieren war. Aber dass Gorlan ihn nicht zufällig abgepasst hatte, das war ihm wohl bewusst und ließ ihn insgeheim hoffen. Der wahre Grund für den nächtlichen Ausflug des Torhüters lag darin, dass er seit einiger Zeit mit der Entlohnung seiner Dienste für Randal, oder sollten wir besser sagen, dessen Gefährtin, nicht mehr zufrieden war. Die paar Kupferlinge, die Randal ihm regelmäßig zusteckte, damit er der Witwe das Tor sperrte, deuchten ihn in letzter Zeit arg wenig, verglichen mit dem, was die Witwe an manchem Abend vor seiner Nase davon trug. Ob auch Eifersucht im Spiel war, bleibt ungewiss. Gorlans Unzufriedenheitsandeutungen hatte Randal jedenfalls bisher immer leichtfertig in den Wind geschlagen. Nun wollte Gorlan Randal seinen Unmut auf eine etwas eindrücklichere Art anzeigen, auf eine Art, die Randal nicht mehr ignorieren konnte. Durch Lothlanns Brotdiebstahl hatte das Schicksal ihm eine einmalige Gelegenheit in die Hände gespielt. Nicht nur konnte er Randal selbst bedrohen. Sondern er konnte auch die Freude zerstören, die Randal aus Lothlanns Anwesenheit schöpfte. Gorlan störte es, wie gefügig Lothlann sich seinem Meister gegenüber zeigte. Es störte ihn, wie er als Gehilfe Randal ganz Meister sein ließ. Er störte ihn, wie Randal sich durch Lothlann entfalten konnte. Wieso sollte er also nicht auch diese Beziehung auf die Probe stellen, wo es sich doch gerade anbot. Den Dieb beim Schlafittchen, pochte Gorlan an Randals Tür.

„Aufmachen!“

Dass die Türe offen gewesen wäre, interessierte Gorlan nicht. Der Ruf und das Pochen sollte das Hofgesinde wecken. Es blieb zwar alles dunkel und still, aber Ohren lauschen bekanntlich leise. Gorlan klopfte zur Sicherheit noch einmal, und zupfte sich seine Halsbinde zurecht, um ausnahmsweise einen pflichtbewussten Eindruck zu erwecken. Seinem Dafürhalten nach würde das dem ganzen einen beinahe komischen Anstrich geben und den formversessenen Randal umso mehr zur Weißglut treiben.

Das Liebespläuschchen zwischen Kammerheizer und Witwe wurde jäh unterbrochen. Randal stürzte hinaus und stellte sich in den Türstock, als Schutzschirm für seine Stube, seine Geheimnisse, seine Witwe. Gorlan verkündete ihm die frohe Botschaft:

„Dein Gör hat aus der Küche der Herrschaft gestohlen! Hab’ ihn in flagranti, mit vollem Maul erwischt. Schleicht im Dunkeln!“

Randals überraschte Miene galt Gorlan, nicht Lothlann, dem der Torhüter soeben den Hemdkragen auf Nasenhöhe zog. Der Kammerheizer war ganz offensichtlich überrumpelt und wusste im ersten Moment weder sich selbst noch seinem Gehilfen zu helfen. Nichts anderes hatte Gorlan erwartet. Er hatte bewusst gegen die ungeschriebenen Gesetze der kleinen Hofgemeinschaft verstoßen. Das gemeinsame Zusammenleben in den Gesindehäusern war nämlich nur möglich, wenn jeder die Unzulänglichkeiten der anderen akzeptierte und tolerierte. Und für gewöhnlich hielten sich alle daran: Der Burggraf musste selten etwas schlechtes über einen Hofbedienten hören und noch selter tatsächlich Urteile fällen. Gorlan aber verstieß mit Kalkül gegen die ungeschriebenen Gesetze. Er sah nicht weg. Er sah hin, zeigte mit dem Finger und rief laut aus. Mit einem überlegenen Funkeln in den Augen setzte er zum tödlichen Stich an:

„Hat’ gemeint, du hättst ihn stehlen gemacht. Ihn angestiftet.“

Randals geistiges Auge sah, wie sich Gorlans Worte in konzentrischen Kreisen in alle Ohren ausbreiteten, und sein perfektes Kartenhaus zum Einsturz brachten. Man kann sich vorstellen, was diese Unterstellung in Randal auslöste. Das war weit weitaus gravierender als eine falsche Anrede, eine schiefe Linie oder ein Fleck auf der Fassade seines Palastes. Es war die drohende Apokalypse. Nicht bloß ein Fehler, sondern das Ende seiner Existenz. Gorlan drohte den schwachen, makelbehafteten und ganz unvollkommenen Randal aus dem Schutz der Hütte zu ziehen, ihn jedermann nackt zu präsentieren und ihn mitsamt seiner „perfekten Ordnung“ der Lächerlichkeit preiszugeben. Gorlan würde im ersten Akt allen die schmutzige Bauerswitwe vorstellen, mit der sich der vermeintlich feine Herr Kammerheizer abgab. Die Ränge barsten vor lauter Lachen, wie dumm er ihr auf den Leim ging, solange sie ihm nur brav die fromme Dienerin vorspielte. Und wie er sie dafür mit Gaben überhäufte, während sein Eheweib duldend daneben lag, und er selbst immer magerer und dürrer wurde. Im zweiten Akt zog Bühnenmaestro Gorlan, mit makellos weißer Halskrause angetan, den Gehilfen ins Rampenlicht. Er führte vor, wie Randal ihn stehlen ließ, um mit dem Diebesgut die Bäuerin zu umwerben. „Ja, Herr, nein, Herr“ sagte das dumme Bürschchen wie eine Marionette damit es Randal zufriedenstellte, und alle hielten sich den Bauch und japsten nach Luft bei der köstlichen Komödie. Eine Schabe die ein Schmetterling sein will, und die anderen Schaben ließen ihr den Glauben. Zum Finale malte Gorlan rote Punkte auf Randals Wangen, setzte ihm einen Spitzhut auf und verbeugte sich vor der prustenden Menge. Sie warfen ihm Blumen und Geldstücke aus Entzückung über das grandiose Spektakel. Dann zog er den strampelnden Clown an den wenigen verbliebenen Haarbüscheln vor den Burggrafen, der ihn hämisch grinsend vom Hof verwies. Eine solche Witzfigur hatte nichts am gräflichen Hof zu suchen! Randal wurde aus dem erlauchten Kreis ausgestoßen. Gorlan warf ihn samt seinem Bauernhofstaat in den Dreck vor die Herrschaftsmauer und sperrte verzückt das Tor hinter den dreien. Die Witwe bespuckte Randal, Lothlann trat ihn, dann liefen beide davon. Randal blieb nackt in dem Laubhaufen zurück und winselte vor Gorlan um Gnade. Kurz: Randal sah sich vor tausenden Augen sterben.

Gorlan hatte ihn ganz in seiner Hand. Er entnahm Randals Gesichtsausdruck, dass die Drohung angekommen war. Doch der Torhüter war nicht dumm. Er wollte sich das Geschäft nicht verderben, sondern lediglich einige Vorteile auf seine Seite bringen. Und so ließ er Randal noch einmal aus der Schlinge schlüpfen. Er bot ihm eine alternative Wahrheit an.

„Ein dreckiger Dieb und Lügner ist das! Ich wollt’ ihn vor den Herrn Burggrafen bringen. Aber dem würd’ er sicherlich auch seine Märchen ins Gesicht speien, dass du statt Heizerknechte Diebesknechte machst. Elende Schlangenbrut!“

Der Torhüter ließ den Missetäter in Randals Richtung stolpern, und warf einen bösartigen, wissenden Blick an Randal vorbei in die Stube, in der Randal die Witwe verbarg. Der Kammerheizer sah sich nicht in der Lage, das Angebot abzuschlagen und Lothlann machte es ihm durch sein Schweigen einfacher. Also stimmte er zittrig und wenig überzeigend mit ein:

„Ha! … Ha! Wollte sich, salva venia, erleichtern, hat er g’sagt! Dabei erleichtert er nix als die Küche des Herrn Grafen! Halt’ einem Bauernlümmel was vors Maul und er schnappt danach! Dünken sich alle für listig oder maßen sich den Grafen an!“

„Dann sieh’ zu dass du das austreibst! Sonst bringt er mich, den Herrn Burggraf und dich am Ende noch in Verlegenheit!“

Mit dieser Drohung wandte sich Gorlan im Triumph ab, den Brotlaib unter dem Arm. Morgen würde es heißen, das Brot sei gestohlen worden, und ein gestohlenes Brot war schließlich gestohlen und keiner fragte mehr danach. Er nahm es als Vorschuss der erhöhten Verehrungen, die Randal ihm von nun an zukommen lassen musste.

Randal zog seinen Gehilfen rasch in die Stube. Der Bauerswitwe hatte es die Sprache verschlagen, wusste sie doch wohl von Randals Gespaltenheit. Ihre Anwesenheit machte es für keinen leichter.
„Was bist du doch für ein nutzloses Mensch!?“ herrschte Randal seinen Gehilfen mit unterdrückter Stimme an. Randal war sicher, dass der Torhüter selbstzufrieden an der Tür lauschte, wie auch die anderen Hofbedienten gewiss noch die Ohren spitzten. Lothlann konnte den Gesichtsausdruck seines Meisters schwer deuten. Er schien die Worte nicht ganz ernst gemeint zu haben, wirkte dennoch aufgelöst, fast panisch, wahnsinnig. Und obschon die Witwe in diesem Moment Mitleid für Lothlann empfand, überwogen für sie doch die Vorteile der Beziehung mit Randal. Also verließ sie die Stube, lief dabei beinahe den spitzohrigen Gorlan um und eilte nach Hause. Randals Augen liefen rot an, er trug in seinem Innersten die bittersten und qualvollsten Kämpfe aus. Armer Lothlann! Ihm begann es dunkel zu schwanen, dass Randal unter diesen Umständen keinen anderen Ausweg sehen würde. Für Randal gab es keine Wahl. Lothlann musste ihm jetzt einfach helfen. Randal versuchte also, sich auf die vom Torhüter vorgeschlagene Illusion einzulassen, und wo ihm sein Gewissen dies versagte, erinnerte er sich selbstmitleidig daran, dass er von einem dahergelaufenem Torhüter in diese Situation gezwungen worden war. Der Lügner wurde seiner Strafe zugeführt. Es gab keine Geheimnisse! Es gab keinen zweiten Randal. Es gab nur den ehrwürdigen und treuen Oberstkammerheizer! Das bewies Lothlanns Rücken in dieser Nacht für alle Ohren.

Aber der Gebrochene ließ kein Martyrium unbelohnt.


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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Fr 7. Jun 2013, 12:22 
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[leider bislang die schlechteste Episode, aber ich will endlich zur Ankunft des Grafen voranschreiten - darauf freue ich mich nämlich. Vielleicht verbessere ich diesen Teil ja später irgendwann einmal]

VII. Illmaters Purgatorium (2/2)

Keine Linderung ohne Schmerz ¬- Ilmater ist kein leichter Schirmherr. Der Dieb war diszipliniert worden. Man hatte dem Langfinger seinen verdorbenen Geist ausgetrieben. Genauso, wie Gorlan es vorgeschlagen, oder sollten wir besser sagen: eingefordert hatte. Unglücklicherweise pflegten selbst die kleinsten Geister nur allzusehr an ihren körperlichen Hüllen festzuhalten. Und so brauchte es auch in diesem Fall kochendes Blut und unaufhörliches Nervenblitzen, um den malefiziösen Geist aus dem Gefäß zu zwingen. Daher versteht es sich auch, dass die moralische Verbesserung des Delinquenten nicht zu dessen körperlichem Wohlbefinden beitrug: Von seinem frisch gereinigten Geist bemerkte Lothlann nicht viel. Umso mehr brannten sich aber die unvermeidbaren Nebeneffekte der Behandlung in sein Bewusstsein. Jeglichen Sinn hatte das wuchtige Pochen aus Lothlanns Kopf geschlagen. Die Striemen auf seinem Rücken bereiteten ihm noch Zehntage nach der Prozedur Schmerzen, machten ihn kleinlaut.

Aber auch die schlimmsten Momente sind vergänglich. Auf jede noch so schreckliche Nacht folgt das versöhnliche Leuchten der nächsten Morgendämmerung. Von der Ferne fuhr der Wind mit lautem Rauschen durch die Blätter. Die ersten fahlen Strahlen der Herbstsonne fielen durch den Türspalt und reflektierten die flirrenden Staubkörner, die in der Stube ihren Tanz vollführten. Lothlann verfolgte das Spiel mit schweren, von der Nacht gezeichneten Blicken. Randal war nicht da. Für einige Augenblicke wähnte sich der Geläuterte im Traum und schloss wieder die Augen, dämmerte am Rande zwischen Schlaf und Wachen dahin, abseits der Zeit.

Schließlich war das Knarzen der Tür zu vernehmen. Eine Silhouette zeichnete sich im Türstock ab. Es war Randal, mit seiner Heizerschürze angetan. Auf sein Zungenschnalzen hin erhob sich Fucho, der Jagdhund, und folgte ihm nach draußen. Als sich schließlich auch Lothlann auf seiner Schlafstätte aufzurichten begann, hielt Randal inne und sprach:

„Schlaf nur, Lothlann, schlaf.“

Dann verschwand er wieder nach draußen, ließ seinen Knecht verdattert im Stroh sitzend zurück.

Lothlann war nach diesen Worten schnell wach und begann zu grübeln. Randal hatte ihn schlafen lassen, war alleine dem Burggrafen einheizen gegangen. Und obendrein hatte er ihn mit vollem Namen angesprochen, wo er ihn doch sonst immer bloß abschätzig "Lann" geheißen hatte. Angestrengt versuchte sich der Knecht einen Reim auf die plötzliche Freundlichkeit seines Meisters zu machen. Es waren Momente, in denen der gebrochene Gott Lothlanns Gedanken leitete. Gorlan hatte den Finger in Randals tiefe Gespaltenheit gelegt, um ihn damit in einen äußerst verlustreichen Krieg gegen sich selbst zu stürzen. Die Schmerzen, die Gorlan durch Randals Hand geschickt hatte, wollten Lothlann mit lodernden Argumenten in die Illusion treiben, wollten ihm Randal zum grauenhaften Foltermeister und zum Schuldigen machen. Doch der Gebrochene wandte das Feuer ab, hüllte Lothlann in einen dicken Schaftspelz und gab ihm die Weisheit, Gorlans Plan zu durchschauen. Und so erkannte der Knecht in seinem Meister bloß einen Getriebenen, Überwältigten.

Randals Freundlichkeit an diesem Morgen führte ihm vor Augen, dass die Verbesserung des Diebes dem bloßen Schein, nicht aber der Wahrheit gedient hatte. Randal hatte bloß die Form gewahrt. Zwar lief er beständig in Gefahr, Form und Inhalt zu vermischen, doch in diesem Fall hatte er wohl die Unterscheidung getroffen. Ja, vielleicht bereute Randal seine Tat sogar? Vielleicht versuchte er nun, sie durch Freundlichkeit wieder gut zu machen? Wie sonst war es alles zu verstehen? Lothlanns Kopf entwarf also einen Randal, der sich schuldig gemacht hatte, und dem es nun Leid tat. Lothlann offenbarten sich ungeahnte Handlungsspielräume. Es lag nun ganz bei ihm, wie er mit der Schuld seines Meisters umgehen würde. Zum ersten Mal hatte Lothlann die Zügel in der Hand.

Aus Erfahrung wusste er, dass es gefährlich war, für die Schuld anderer verantwortlich zu sein und andere mit dem eigenen Schicksal zu belasten. Man rief damit nur gefährliche Gefühle hervor, die allzu leicht verhängnisvoll kippen konnten. Er hatte wieder die Blicke seiner Stiefbrüder, und vor allem den Schatten über Rubens Gesicht vor Augen. Er sah, wie etwas unausgesprochenes, vages Ruben verzehrte; etwas, das Lothlann weder benennen noch vertreiben konnte. Schuld war gefährlich, und Lothlann wollte sie bei seinem hin und her gerissenen, um nicht zu sagen: zerrissenen Meister auf keinen Fall herausfordern. Wer wusste besser um Randals Instabilitäten und Abgründe Bescheid als er? Lothlann überlegte also, wie er ein sicheres Auskommen mit jenem Mann finden konnte, dessen Leben er zu teilen hatte. Er wollte nicht riskieren, dass die Schuld Randal in jene Wirklichkeit zurück trieb, in der Lothlann der Täter war. In dieser, jetzigen Welt konnte Lothlann wenigstens das Opfer bleiben. Also wollte er auch alles dafür tun, um Randal an diese Welt zu binden, sie ihm bequem einzurichten.

Diese gleichsam reflektierte Angst war es, die Lothlann dazu bewegte, Randals Schuld bedingungslos zu vergeben. Anders als bei seinen Stiefbrüdern, bei denen er nie gewusst hatte, warum sein Anblick unangenehme Gefühle hervorgerufen hatte, erinnerte ihn diesmal sein geschundener Rücken ganz genau daran, worin Randals Schuld lag. Erst durch das Wissen um die Schuld konnte Lothlann sie vergeben. Also schwieg Lothlann vor Randal über den Vorfall. Er beschwerte sich nicht; nicht mit Blicken, und schon gar nicht mit Worten. Er erinnerte ihn nie an die Schmerzen, die der geheimnishütende Randal ihm angetan hatte. Er stand schon am Vormittag wieder vor seinem Meister und nannte ihn zuversichtlich "Herr", wie am Vortag, als sei nichts geschehen. Er pflegte und hegte den aufrichtigen, ehrwürdigen Randal, der in seiner Arbeit für das Grafengeschlecht aufging, treu war, und mit seiner Position in der Welt zufrieden. Er wusste von keinem anderen Randal. Er spielte ihm den vermeintlich treuesten kleinen Knecht, der unbeirrbar an der Seite seines Meisters stand. Lothlanns Rücken stand dabei der von beiden gewünschten Wahrheit nur im Weg. Sie einigten sich stillschweigend auf einen schrecklichen Unfall, eine Naturkatastrophe. In ihrer Welt war weder Lothlann, noch Randal der Schuldige. Und wenn Randal merkte, dass sein Knecht bei einem der Aufträge von seltsamen Rückenschmerzen geplagt wurde, nahm er ihm diese stillschweigend ab.

Wohl ist ein Einwand nur allzu berechtigt: Schuld kann nicht einfach und nicht aus äuerßlichem Kalkül heraus vergeben werden. Ob Lothlann Randal auch innerlich vergeben hatte? Wohl kaum. Er ging nicht ohne Narben aus diesem Erlebnis. Aber auf den guten Willen und die gewaltige schauspielerische Leistung kam es an. Auf die äußerliche Form. Lothlann richtete Randals Ordnung wieder zurecht, er richtete ihm seine ins Chaos gekommene Welt wieder ein, selbst wenn er dabei nur Attrappen und Fassaden aufstellte. Randal war zu blind um den Unterschied zu sehen, konnte und wollte ihn vielleicht nicht sehen. Seine Welt hatte stets nur aus Attrappen bestanden.

Lothlann überkam das Gefühl, Randal duchschaut zu haben. Zum ersten Mal blitzte Lothlanns Fähigkeit auf, die für sein späteres Leben von größtem Nutzen sein sollte. Er entwickelte nämlich ein Verständnis seiner Mitmenschen. Er begann ihre Schwächen und Stärken zu bemerken, sah nach und nach in fremde Karten. All das diente jedoch nicht der Beeinflussung, sondern dem Überleben. Ein Gespür für Menschen zählte zu den wesentlichen Voraussetzungen dafür, den Weg des geringsten Widerstandes zu erkennen und beschreiten zu können – an allen anderen Wegen wäre unser Protagonist vielleicht zerbrochen.

Ilmater entlohnte Lothlanns Martyrium hundertfach. Und nicht nur das - es bleibt den Gelehrten des gebrochenen Gottes zur Auslegung, ob Illmater nicht gleich das Schicksal zweier Leidender zum Guten gewendet hatte. Was Lothlann nämlich aus reflektierender Angst getan hatte, rief bei Randal etwas hervor, auf das Lothlann gar nicht zu hoffen gewagt hatte: Dankbarkeit und Rührung. Von diesem Tag an behandelte er Lothlann heimlich, abseits fremder Augen, mit größerer Nachsicht. Er rief ihn stets mit vollem Namen und zeigte sich großzügiger, was das Essen betraf. Der schreckliche Abend, so möchte man meinen, hatte Randal dazu gebracht, seinem Gehilfen einen neuen Platz in der Ordnung zu verleihen, oder sollten wir vielleicht sogar mutmaßen: außerhalb der Ordnung?

Es rührte Randal insgeheim, dass sein kleiner Mitbewohner wohl wusste, dass er nicht der Kammerheizer war, der zu sein er vorgab, und dennoch davon absah, ihn herauszufordern und seine Welt einstürzen zu lassen. Sein Knecht nutzte das Geheimnis nicht aus, sondern spielte tagsüber weiterhin mit. Randal schien Lothlanns Schauspiel nicht zu durchschauen. Er führte das Verhalten seines Knechtes nicht auf dessen Kalkül zurück, sondern auf den - seiner festen Überzeugung nach – rudimentären Intellekt des Bauernvolks. Vielleicht auch noch auf das zarte Alter seines Knechts. Er fand in ihm jedenfalls den treuesten Gehilfen. Ja, er setzte sogar so viel Vertrauen in ihn, dass er seine eigene Unvollkommenheit nicht mehr vor ihm verbarg. Lothlann wurde zwar nicht zu einer Vertrauensperson auf gleicher Augenhöhe, aber er wurde insgeheim mehr als sein Gehilfe. Er war sein schweigsamer Gefährte, bei dem Geheimnisse sicher waren.

Lothlann erinnerte Randal, dass es auch außerhalb der Ordnung Gutes gab, wenngleich Randal seine Berührungsängste mit dieser tierischen, unzivilisierten Extraterra nie ganz ablegen konnte. Lothlann gab ihm etwas, auch wenn er nur jeden Abend neben ihm saß, sein Brot aß und sich dabei gar nicht um Randal kümmerte. Randal merkte, dass Lothlann ihn als ganz selbstverständlich ansah. Lothlann achtete nicht auf ihn, wenn er mit seinem Brot beschäftigt war. Er prüfte ihn nicht. Er beobachtete zwar aufmerksam, hatte aber keine Erwartungen. Er nahm einfach nur zur Kenntnis, dass Randal da war, egal wie er da war - was Randal über alle Maßen rührte. Lothlann aß nicht in verfeinerten Formen, bemühte sich nicht um Ästhetik. Aber gleichzeitig verlangte er dies auch nicht von Randal. Lothlann schien einfach dazusitzen, sein Brot zu verschlingen, und weder Zeit noch Gesellschaft zu kennen.

Wohl hatte dies für Randal etwas Tierisches, dieses gleichgültige, ordnungslose nebeneinander-Herleben, ohne Ansprüche an die anderen zu stellen, ohne Hierarchie, und ohne sich gegenseitig zur schönen, verfeinerten Form zu animieren. Er sah in Lothlann also immer noch sehr wohl das Hässliche und Niedrige. Es war das, was Bauern von Herren unterschied. Auch ein Hund achtete beim Fressen nicht darauf, was um ihn herum geschah. Aber Randal entdeckte zum ersten Mal seit Langem, wenn überhaupt, in diesen niedrigen Unbekümmertheit etwas Gutes. Er konnte im selben Raum mit Lothlann sein, ohne sich beobachtet zu wissen. Randal konnte vor Lothlanns plumpen, treuen und vor allem nachsichtigen Augen er selbst sein. Obwohl Lothlann alles gegen ihn in der Hand hatte, machte er davon keinen Gebrauch. Während er sich vor den Blicken seiner kranken Frau weiterhin mit dem Bettvorhang verbarg, merkte er jedenfalls, dass er vor Lothlann keinen Vorhang brauchte. Und dieser Vorteil war es auch, der Randal seinem jungen Freund das Tierische verzeihen ließ. Und so sah Randal wohl in Lothlann zum ersten Mal einen Funken zwar nicht des Schönen, aber des Guten im Niedrigen, Hässlichen. Es war etwas, nachdem sich Randal lange verzehrt hatte, ohne es zu wissen: Geborgenheit. Ein Privileg der Tiere und der Unzivilisierten - aber nach den schrecklichen Erfahrungen hatte Randal Geborgenheit so bitter nötig, dass er such dafür selbst Nähe zu seinem plumpen Bauerngehilfen zuließ. Er erlaubte sich zum ersten Mal, eine kleine Harmonie aus den plumpen Bauernliedern heraus zu hören.

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BeitragVerfasst: Mo 10. Jun 2013, 16:39 
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VIII. Intermezzo: Traubenstein erwacht

Nur wenige Tage später kam ein Reiter in den Schlosshof gesprescht. Ohne abzusteigen zog er den befiederten Hut vor dem Burggrafen und berichtete, dass ihr Herr, die Exzellenz, bereits im Begriff war, aus Saerloon aufzubrechen. Bei gutem Wetter und trockenen Wegen würde er in einem guten Zehntag in Traubenstein eintreffen. Die Wagen mit den Draperien wären bereits vorausgeschickt worden.

Damit endete der Sommerschlaf des Schlosses. Von einem Moment auf den anderen füllten sich die Gänge und Kammern der gräflichen Residenz mit Stimmen und Schritten. Wo bisher einsame Stille und staubige Finsternis geherrscht hatten, pulsierten nun überall die Diener und Helfer, immer schneller und schneller, dirigiert durch gehetzten Burggrafen. Schloss Traubenstein öffnete seine Augen. Mit lautem Quietschen gingen die Fensterläden auf. Die Zimmerfluchten, die Lothlann bis dahin als verwaistes Labyrinth gekannt hatte, wurden von Licht durchflutet. Welch erhabener Anblick, wie der Sonnenglanz gegen die Pilaster und Stukkaturen der Innenräume brandete, dem Lauf der Ranken und floralen Ornamente folgte um sich dann in den alabasternen Rocailles zu ergießen, die die Schönheit der sembischen Küsten imitierten. Dann holte das Schloss tief Luft. Beide Flügel des Hauptportals öffneten sich. Windstöße wirbelten durch die langen Zimmerfluchten, vom östlichen in den westlichen Trakt und wieder zurück. Randal beobachtete in freudiger, ja geradezu manischer Erregung, wie sein Liebling erwachte, kostete jeden seiner Luftzüge aus. Es lebt! Es lebt!

Und auch Lothlann ließ sich von der zunehmenden Geschäftigkeit der Schlossgemeinschaft und von Randals Vorfreude anstecken. Er wurde von den Sinneseindrücken des Schlosses überwältigt. Kannte er bis dahin nur dunkle niedrige Kammern als menschengemachte Räume, höchstens vielleicht den gemäßigten ruralen Prunk des Windberger Gianntiah-Tempels, so stieß er nun ungebremst und ohne Vorwarnung auf das Ergebnis des höchsten Genius, auf die höchste Perfektion des Menschengeschlechtes. Lothlann konnte Randals Weltenordnung zwar nicht verstehen, aber er wurde von der Wucht ihrer Manifestation erschlagen. Ob sich Lothlann dabei ertappte, als er, von den eigenen Sinnen überwältigt, an Randals Ordnung zu glauben begann? Vielleicht war Randal gar nicht so verrückt. Vielleicht war das Weltgefüge tatsächlich so beschaffen. Sah Lothlann nicht das Schöne der Ordnung? Wollte er sich nicht zu Randals Ästhetik bekennen, sich als Teil der Ordnung sehen, sich ihr unterwerfen? Wollte er sich nicht als Erde für die schönsten, unerreichbaren Blüten verstehen? Wollte er nicht mit dem dunklen Hintergrund verschmelzen, der die Blüten umso schöner erstrahlen ließ? Tröstete nicht der Anblick der Blüten über die eigene Farblosigkeit hinweg? Nahm man für den Anblick nicht die schlimmsten Leiden bereitwillig auf sich? War es nicht eigensinnig, die Schönheit der Ordnung zu stören, indem man selbst farbig sein wollte? Hatte es nicht etwas moralisch Gutes, für die Schönheit des Weltgefüges zu leiden? Kommoden aus edlem Holz, garniert mit meisterhaften Einlegearbeiten, Tische, deren Beine in formvollendetem Schwung gedeichselt waren sowie verführerisch glitzernde Kerzenleuchter wurden von ihren staubfangenden Decken befreit. Ein Stück nach dem anderen wurde enthüllt und geweckt. Dann die Luster! Für Randal gingen die Sterne auf, als man sie - "Hau-ruck!" - zur hohen Decke empor zog.

Jedoch gehörte nicht nur das Wecken, sondern auch das Ankleiden zum Lever. Schon bald erreichten die Draperiewagen Traubenstein. Lothlann half sie hineintragen, die schweren Taft- und Samtstoffe, die unter strengem Blick des Burggrafens vor Fenster und Wände gehängt wurden. Oh, in den schönsten Mustern und den machtvollsten Farben brachen sie das Licht! Sie schmiegten sich um die Pilaster und Gesimse, und fanden ihren Halt in gravitätischen Faltenwürfen. Auf den Draperiewagen kamen außerdem die kostbaren Thayteppiche angerumpelt. Wie Schlangenzungen rollten die Läufer aus, verwandelten die Böden durch ihr verwirrendes Farben- und Formenspiel in hypnotisierende Fallgruben. "Starr' nicht!", riet die Köchin Gretia Lothlann, "sie fangen deine Seel und tun' sie in Knechtschaft!". Lothlann hielt sich daran und vermied verhängnisvolle Blickkontakt mit den schwindelerregenden Knüpfwerken. Die Geschichten der thayanischen Sklavenfänger hatten sich von den Seestädten, (wo sie harte Realität waren), bis in die hintersten Winkel Sembias, bis in den Kopf von Lothlann, herumgesprochen.

Weiters mussten auch alle Kamine von Lothlann und Randal gereinigt werden. Nur bei den Schornsteinen zeigte Randal – wohl aufgrund der jüngsten Ereignisse – großes Entgegenkommen. Erst nächstes Frühjahr würde er Lothlann in die Schornsteine zum Fegen abseilen. Zuletzt wurden das Becken und der Umberleekopf des Zierbrunnens von ihrem Laubmantel befreit. In den hervorquellenden Augen der Meerhexe spiegelten sich nun wieder die schaurigen Eindrücke der tiefsten und kältesten Meeresschlünde. Gorlan musste pumpen, damit die Furie Wasser spie.

Doch nicht nur das Schloss selbst erwachte zum Leben. Die gesamte Herrschaft des Grafen rotierte. Von überall her, aus Windberg und den übrigen Orten der Herrschaft Traubenstein, sowie aus allen Orten der Herrschaft Niederhain, brachten Bauern Vorräte. Ihr Ziel war vor allem der herrschaftliche Meierhof, unweit vom Schloss gelegen, wo das herangebrachte Mehl bei Bedarf gebacken werden konnte, und wo Hühner, Schweine, Rinder darauf warteten, den Hunger der gräflichen Familie zu stillen. Zahlreiche Fässer Wein, vornehmlich aus den Pressen Windbergs, kamen auf unzähligen Wagen herangerumpelt und wurden direkt in den Schlosskeller gehievt. Lothlann fragte sich, ob wohl auch Barthelmes Wein darunter war. Dazu kamen zahlreiche Kerzen, die den enormen Lichtbedarf des Schlosses für den Winter stillen mussten. Und dann das Feuerholz: es brauchte Berge, nein ganze Gebirge davon! Lothlann tat bereits alles weh, als er nur daran dachte, wieviel Holz er und Randal jeden Tag von der Holzlege zum Schloss tragen würden, und wie oft sie mit dem Wagen zum Meierhof fahren müssten, um die Holzvorräte des Schlosses aufzufrischen.

Und so wunderte sich Lothlann mehr und mehr, ob eine fürstliche Familie, oder doch eine ganze Armee auf Traubenstein heranrückte. Randal belehrte ihn: Ein großes Gefolge sei das bedeutenste, illustre Zeichen von Macht und Hoheit. Nicht die gräfliche Familie, sondern das Gefolge – das Randal auf etwa einhundert Leute schätzte - machte das Gros aus. Aber alles das, worüber sich Lothlann gerade den Kopf zerbrach, sei nieder und unbedeutend. Schnöde Logistik, Beiwerk, wie Randal meinte. Er solle sich lieber darauf konzentrieren, die Würde und Majestät des Grafen und seines Geschlechtes zu verstehen und zu würdigen. Diesen Sommer hatte der älteste Spross, Randin Sixt von Traubenstein, im Auftrag des Edlenrates zu Saerloon eine Flotille gegen die Thayaner und Talländler kommandiert, höchst erfolgreich, wie es hieß – man hatte in Saerloon gar eine Gedenkmedaille schlagen lassen. Das gab Randal ihm zum Exempel: Die Meriten seien es, klärte Randal seinen kleingeistigen Helfer auf, der Edelmut, die Großzügigkeit, von denen sich der Adel herleite, nicht Geld, die Anzahl der Weinfässer oder sonstige Petitessen, mit denen sich die Engstirnigen beschäftigten. Die alles sehende Siamorphe hielt nach edlen Taten Ausschau, nicht nach krämerischer Knausrigkeit.

Gleich am nächsten Tag wollte Randal in missionarischem Eifer die Lektion für seinen Schüler vertiefen. Er nahm ihn also mit in das Schloss, wo er ihn vor einem zugedeckten Objekt stehen hieß. Als er lange genug gewartet hatte und die Würde des Moments zu unterstreichen, lüftete er endlich die Decke. "Das ist unser gnädiger Herr Fürst," sagte Randal mit gedämpfter, beinahe zittriger Stimme. Dann nahm er andächtig hinter Lothlann Aufstellung und legte ihm beide Hände auf die Schultern. So standen sie einige Augenblicke da – Lothlann wusste, dass er wie sein Herr fromm und gerührt zu schweigen hatte, als er den gütigen, weisen doch gleichzeitig gerechten und harten Blick des gräflichen Abbildes auf sich einwirken ließ.

Die Botschaft des Herannahen des Grafen hatte Randal zweifellos verändert. Je näher der Tag kam, desto mehr blühte er auf. Lothlann bemerkte im Kerzenschein des Abendmahls, wie sich zu dem sonst so gewieften Glitzern in Randals Augen ein fröhliches Flackern gesellte. Ja, Randal drehte sich einmal sogar zu seinem Gehilfen um und warf ihm einen Blick zu, als hätte er eine besondere Überraschung für ihn parat, dürfte sie ihm aber noch nicht verraten. "Na, freust' dich schon auf den Adventus unseres gnädigen Herrn Grafen?" Lothlann lächelte zurück und nickte artig, darum bemüht, den manischen Untiefen seines Meisters auszuweichen. Randal nickte, als hätte er es gewusst, und versank mit einem eingeschlafenen Lächeln in Erinnerungen, die Lothlann nicht teilen konnte. An einem anderen Abend verriet Randal seinem Gehilfen, dass die Ankunft ihres gnädigen Herrn einem großen Fest gleichkommen würde. Nicht nur die Giantiah-Pastoralinnen aus Windberg und anderen Ortschaften würden erscheinen, nein, auch der Rat aus Windberg, der Rat aus Holenbrunn und aus Eschenschlag, beides Flecken in der Herrschaft Niederhain. Ob auch die Vertreter von Steinfurt kommen würden, sei unklar. Lothlann erfuhr, dass sich der Graf im Streit mit der angrenzenden Herrschaft über diesen Ort befand. Der Konflikt sei vor den Edlenrat in Saerloon gebracht wurden, entlud sich aber immer wieder in kleineren Gewalttätigkeiten zwischen den Parteigängern des Grafen von Traubenstein und den Leuten seines Widersachers. Vom Erscheinen der Vertreter aus Steinfurt würde viel abhängen – es wäre Zeichen einer deutlicher Parteiname für die von Traubenstein.

Der Graf nahte heran. Nur noch zwei Tage, hieß es schließlich. Lothlann sah nun immer mehr unbekannte Gesichter auf dem Schloss. Er gab auf, Randal nach jedem einzelnen zu befragen – ohne Zweifel hätte Randal alle gekannt. Vertreter aus allen Ecken der Herrschaft waren bereits angekommen und nahmen bis zum Einritt des Grafen in den Herbergen und Häusern von Windberg Unterkunft. Jeden Tag kamen einige von ihnen aus Windberg geritten, um sich über die Vorbereitungen im Schloss zu informieren. Gorlan, der sich all diese Zeit hindurch auffällig ruhig gegenüber Randal und Lothlann verhielt, verdiente ein kleines Vermögen an Sperrgeldern, stand er doch den ganzen Tag vor dem Schlosstor und nahm kleine Verehrungen für das Passieren des Schlosstores entgegen. Im Schlosshof selbst wurden Bänke, Tische, Weinfässer aufgestellt. Auch der Weg vor der Schlossmauer zum Schloss wurde auf Vordermann gebracht. Planken lagen bereit, um dem Grafen auch bei Regenwetter einen würdigen Einzug zu erlauben, und Pferdehufe vor dem Einsinken zu bewahren. Die Mauer sowie der Weg zum Schlossberg wurde mit zahlreichen frischen Herbstblumen dekoriert. Ja, zuletzt dekorierte Gretia, die nette Köchin, Lothlann selbst, indem sie ihm einen Blumenkranz auf das Haupt setzte. Die Giantiah-Pastoralinnen warteten sogar mit einer Ehrenpforte auf – ein Rankentor, welches der Graf auf halben Weg zwischen Schlosstor und Schloss durchreiten würde, als Symbol der Eintracht zwischen der Erdenmutter, dem Grafen, sowie seinen bäuerlichen Untertanen - Zugleich würde es den Grafen freilich daran erinnern, dem Tempel eine Verehrung zu machen.

Und so kam endlich der lang ersehnte Tag. Das Wetter versprach einen grandiosen Einzug – trockene Wege, trockener Blumenschmuck, eine gütig leuchtende Herbstsonne. Alles war gerichtet, und Lothlann würde dem gebrochenen Gott erstmals zu entgleiten drohen...

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BeitragVerfasst: Sa 16. Nov 2013, 13:03 
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IX. (1/2) Von Siamorphes Herrlichkeit – Spektakel der Majestät

Der Festkalender der Bauern in jenem Landstrich Sembias gab wahrlich nicht viel her. Grüngras, Mittsommer, Hochernte, das Erdenmutterfest und jeweils ein Dorffest im Jahr. Mit diesen kärglichen, über so viele Monde nur allzu dünn verstrichenen Terminen mussten auch die Traubensteiner Vorlieb nehmen. Die Feiertage für die unzähligen leidenden Heiligen beging man hier nicht. Sie wurden nur im Schatten der Küstenstädte, d.h. im Einflussbereich der dortigen Illmatari-Tempel, gefeiert, nicht aber in der entlegenen Herrschaft Traubenstein. Im Gegenzug hatte das alte Herkommen den Traubensteinern jedoch anderes Spektakel überliefert, den glänzendsten Tag in ihrem Jahr, das Fest ihrer Feste. Es war der Tag des "Grafenrittes".

Will man tiefer in die Vorstellungswelt der Traubensteiner eintauchen und etwas über den Grafenritt erfahren, muss man die ältesten Dorfherren nach ihren Erinnerungen an die Erzählungen ihrer Ururgroßeltern befragen. Der Grafenritt führt uns nämlich unzählige Jahrhunderte und Generationen in die Tiefen der Geschichte zurück. Damals, als das Land noch wild war und die sembische Küste jungfräulich, waren die Ahnen der Traubensteiner erstmals in diese Landstriche gezogen. Als Pioniere besiedelten diese freien Chondathaner die nördlichen Gefilde und machten sie urbahr.

Es waren aber auch Scheusale und Unholde, die die Pioniere mit immer größerer Missgunst beobachteten, und ihnen um das so mühselig von der Natur abgerungene Land neidig wurden. Wer diese Unholde waren? Die Antwort variiert, je nachdem, von wem man die Geschichte erzählt bekommt. Den geläufigsten Interpretationen zufolge waren es entweder Orkstämme, böse Naturgeister oder Elben. Alle drei Versionen wissen Dorfälteste auf das Scheußlichste mit Freveltaten der Unholde und Scheusale auszuschmücken. Jedenfalls mussten die Traubensteiner in einer Höhle in den Bergen Zuflucht suchen.

In dieser größten Not berieten sich die Vertriebenen und erhoben schließlich einen aus ihrer Mitte zum Anführer. Dieser primus inter pares trug den Namen Eldann Duarto, der "erste Traubensteiner". Er vereinte die Chondathaner gegen den gemeinsamen Feind und führte sie zu einem glanzvollen Sieg. Und nachdem die Traubensteiner viele Tage, manche sprechen von einigen Zehntagen bis hin zu einem ganzen Mond, in der Höhle um das Schicksel ihrer Recken gebangt hatten, war Eldann Duarto im Triumph mit seinen zwanzig Recken wiedergekehrt – bejubelt von allen in großer Erleichterung und Freude. Der erste Grafenritt! Und die Unholde waren auf ewig gebannt. Alleine der Name des ersten Traubensteiners ließ sie von da an aus Angst erschaudern und fliehen.

Wieviel an dieser Geschichte wahr ist, das ist für die Traubensteiner nicht von Belang. Alle glauben sie fest daran, dass die Linie des Grafen Eldon Hyacinth direkt zum mythischen Eldann Duarto zurückführt. Auch manche kleinere Familien der Gegend beanspruchten übrigens Abstammung von einem von Duartos zwanzig Kämpfern, um die sich jeweils eigene Legenden ranken. Nur die Niederhainer haben schlechte Karten, was mythisches Blut anbelangt, wurden sie doch erst später der Herrschaft Traubenstein einverleibt. Sie sind und bleiben für die Traubensteiner bis heute in gewisser Weise Außenseiter.

Anspielungen an die Haupttat des ersten Traubensteiners finden sich sehr zahlreich in der gesamten Herrschaft. In Zeiten großter Not flüstert man immer noch seinen Namen, und immer noch existieren einige Höhlen, von denen man sagt, sie wären die (einzige) echte Höhle, in die sich die Ur-Traubensteiner einst geflüchtet hatten, und wo sich auch der Grafenritt abgespielt hatte. Bis zum heutigen Tag entzünden die Bauern in diesen Höhlen kleine Lichter, um Wetterschäden und anderes, zum Teil sehr privates Unheil abzuwenden.

Dass sich die Rolle des primus inter pares über die Jahrhunderte hinweg zum Grafen und Herrn gewandelt hat, auch das tut dem großen Fest keinen Abbruch. Ja, vielleicht war der Grafenritt tatsächlich noch der letzte Überrest der Gleichrangigkeit. Denn der Grafenritt ist jenes Fest, an dem vor allem die Grafen ihren Untertanen die Ehre erwiesen. Das Volk verpflichtete den Grafen zum Grafenritt. Ihn ausfallen zu lassen, verärgerte die Traubensteiner nicht bloß – viel eher kam ein solches Versäumnis einem Bruch der Herrschaftsgrundlage gleich. Kurz: solange die Traubensteiner einmal jährlich ihren Grafenritt bekamen, deuchten sie sich, als hätten sie ihren Grafen wie dereinst Duarto aus ihrer Mitte emporgehoben. Bekamen sie ihn aber nicht, so würde sich der Traubensteiner Graf vom gerechten Anführer, durch dessen Adern das mythische Blut floss, zum ungerechten Tyrannen wandeln. Man würde dann gewiss einen lange verschollenen zweiten Nachkommen des Duarte finden, unter dessen Führung es den Tyrannen niederzuwerfen galt. So war das Fest des "Grafenrittes" also immer auch ein politischer Seismograph für das Verhältnis zwischen den Bauern und dem Herr.

Die Herren oder Patrizier von der Küste mochte diese merkwürdige Gepflogenheit der Traubensteiner wohl belächeln. Müssig auch zu berichten, dass auch der steife Kammerheizer Randal das Gleichmacherische an diesem Ritual gänzlich ablehnte. Denn auch er war von den Auffassungen der Küste geprägt, wo es klare, unüberwindbare Grenzen zwischen den Beherrschten und Beherrschern gab. Bauern und Herren – das waren für Randal zwei völlig verschiedenartige Kategorien. Ein Herr bedurfte nicht der Zustimmung des Pöbels. Und Randal trug das Seine dazu bei, auch seinem Knecht Lothlann keine dieser Flausen in den Kopf zu setzen, indem er vor ihm über die Hintergründe des Rituals schwieg. Bleibt nur die Frage, wie Graf Eldon Hyacinth selbst zum Grafenritt stand? Nun, er spielte zumindest mit und ließ sich nicht lumpen – mit wieviel Überzeugung er den Grafenritt beging, das sei dahin gestellt. Die Traubensteiner waren jedenfalls zufrieden mit ihm.

Der Grafenritt war also ein politisches Ereignis. Vor allem aber war er ein großes Spektakel. Von nah und fern, aus allen Ecken der Herrschaft waren an diesem Tag Untertanen angereist, um den wiederkehrenden Eldann willkommen zu heißen. Und obwohl beinahe der gesamte Vormittag mit Warterei am Wegesrand gefüllt war, wurde es keinem langweilig, schon gar nicht Lothlann.

Immer dichter und dichter drängten sich die Menschen um den Festweg vor dem Schloss: Hier bezog der zehnköpfige Rat aus Windberg Position, dort die aus Holenbrunn, gefolgt von Eschenschlag, und ja, auch Steinfurt hatte einen Vertreter geschickt. Selbstredend hatten sich alle Ratsherren möglichst prächtig ausstaffiert, schließlich galt es die eigene Gemeinde festlich zu vertreten! Die stattlichen Ratsherrenbäuche – sie stellten Reichtum und Würde der Besitzer am Besten unter Beweis – wurden durch schwere, teure Stoffe in Szene gesetzt. Stichelnde Blicke flogen hin und her. Galt die Konkurrenz der Pracht sonst stets den eigenen Kollegen, betätigten sich die Ratsherren heute im Mannschaftssport. Und es wurden schwere Geschütze aufgefahren: Ein Pelzsaum hier, Kehlmarder oder Rückenmarder? Die Handschuhe dort, Seide oder Leder? Die Delegation aus Eschenschlag trumpfte besonders auf, trat sie doch sogar mit einem Diener in Erscheinung, worüber besonders die Windberger ihre Nasen rümpften.

Die Delegationen der Orte hatten ein großes Publikum. Besonders das Städtchen Windberg war zahlreich vertreten, lag es doch in unmittelbarer Nähe zur gräflichen Residenz. Alles war auf den Beinen, ob groß oder klein, alt oder jung, arm oder wohlhabend. Kaum einer, der nicht durch Blütenschmuck und Festtagsgewand seinen Teil zur Zeremonie beitrug. Was die Ratsherrn im Großen waren, das waren die Handwerker und Bauern im Kleinen. Lothlann sah auch die prächtig bestickten, schweren Standarten der Windberger Zünfte, wie sie ganz träge im Winde wogten. Jeder wollte heute zeigen, was er hatte. Nicht zuletzt diente auch dieses Fest, wie alle anderen, als großer Heiratsmarkt.

Auch dauerte es nicht lange, bis die ersten ambulanten Händler den von Menschentrauben gesäumten Festweg abgingen – woher sie genau an dem Tag kamen? Das bleibt Geschäftsgeheimnis. Der Windberger Marktrichter war jedenfalls heillos überfordert. Zur Vermeidung allerlei Händel und Ablenkungen vom eigentlichen Anlass, sollte nämlich erst nach dem Einzug verkauft, gegessen und gesoffen werden dürfen. Nun, fassen wir es so: der Marktrichter bemühte sich zumindest einige Stunden redlich, bis man ihn schließlich bei einem Kelch Wein sitzen sah, um sich von den Strapazen zu erholen. Seine Helfer, die Marktbüttel, waren ihm bereits zuvor irgendwo in den Menschenmengen abhanden gekommen.

Handgreiflich wurde es indes nicht wegen des Weins, sondern aus anderen Gründen zwischen den Holenbrunner und den Eschenschlager Ratsherren. Die Holenbrunner sollen nämlich die eine oder andere Bemerkung über den Diener der Eschenschlager fallen lassen haben, vonwegen er sei bloß ein als Diener verkleideter Tischlergeselle aus Eschenschlag, woraufhin die Wogen hochgingen. Und als dann noch die Holenbrunner versuchten, sich einen Platz näher bei der Schlosspforte zu erdrängen, war es überhaupt um die Geduld der Eschenschlager geschehen. Randal beobachtete das Geschehen mit gewissen Amusement, schien er doch genau zu wissen, welcher Partei dem alten Herkommen gemäß der Vorrang gebührte. Alle um das Zentrum herum arrangiert, nach Rang und Qualität gegliedert. Das musste Randal wohl gefallen!

Die kleine Schlossgemeinschaft selbst ¬– Randal, Gretia, Gorlan, Lothlann und die anderen – durften übrigens einen Ehrenplatz einnehmen: Sie standen direkt beim Schlosstor. Denn das Gesinde zählte zum unmittelbaren Gefolge des Grafen, zu dessen "familia". Für sie war er nicht bloß politisches Oberhaupt, sondern auch der Hausvater. So fand sich also auch Lothlann in seinen Holzschuhen Seite an Seite neben den hochweisen Ratsherren wider. Gretia hatte ihn herausgeputzt, damit er kein allzu schlechtes Bild abgab. Entlaust und gewaschen, hatte sie ihm liebevoll einen Blätterkranz geflochten, den er an diesem Tag mit Stolz auf dem Kopf zur Schau trug.

Es versteht sich, dass der Einzug des Grafen für Lothlann ein opulentes Spektakel war. Nicht mit derartigen Menschenaufläufen vertraut, musste er erst verstehen lernen, dass das große Fest ihm erlaubte, sich an den Menschen ganz ungeniert satt zu sehen. Er durfte jeden Handwerker, Ratsherrn, jede Bauersfrau ansehen, so lange er wollte. Niemand konnte in dieser großen Masse erzürnen, ja es nicht einmal bemerken, wenn man ihn ansah. Für anonyme Blicke gab es keine Sanktionen. Also nutzte unser Protagonist die Gelegenheit, um möglichst viele Eindrücke aufzusaugen. Es war ihm ein großer Gabentisch. Er fand Gefallen an der Masse der fremden Gesichter, an den fremden Stimmen und an dem geschäftigen Treiben. Inmitten der Menschentrauben, als Teil eines Ganzen, fühlte sich Lothlann geborgen und beschirmt. Die Stunden verflogen ihm wie im Fluge, bis schließlich – die Mittagsstunde nahte bereits – eine gespannte Vorahnung sich im Publikum ausbreitete. Die Luft knisterte, und Lothlann spürte, dass sein Meister Randal, der sich vom bisherigen Treiben nicht sonderlich beeindrucken lassen hatte, nun immer nervöser wurde.

Dann erfüllte ein tiefes Donnergrollen aus einiger Ferne, aus Windberg, die Luft. [Je lauter, desto besser das Erlebnis!] Eine Bewegung ging durch die Menge. Der Burggraf (d.h. der Schlossverwalter), erschien mit hektischen Schritten in überladener Montur vor dem Schlosstor. Ein zweiter Donner! Das Gewitter wurde lauter. Eine Naturgewalt rückte heran. Das Gemurmel ringsum wich zunächst einem Flüstern und verstummte schließlich ganz. Die Paukenschläge kamen näher und näher. Lothlann beugte sich vor um an den Spalier stehenden Untertanen vorbeizulinsen. In einiger Entfernung konnte er bereits einen Reiter sehen, dem sich die Umstehenden wie Kornähren im Wind zubeugten. Randal zog Lothlann an der Schulter zurück.

Nun verhallten die Trommeln für einige Augenblicke. Die Welt schien kurz still zu stehen, jedermann hielt den Atem an. Dann – ein Schrei, der die Stille durchschnitt und die Trommeln erneut zum Wirbeln brachte:

„Ecce! Excellentissimus et illustrisimus comes! Primus vestri!"

Dann ganz jäh die Pauken mit voller Gewalt in Crescendo! Er war schon ganz nah. Jeder Schlag drang nun urgewaltiger in die Herzen der Untertanen als der nächste. Alle ringsum erlebten den Puls der Macht, voller Gravität und Herrlichkeit. Der Destrier des Grafen schnaubte, stampfte und stieg zu den Schlägen. Das Erdreich erzitterte unter den Hufen. Es schallte durch die umliegenden Täler. Die Schläge durchdrangen die kleinen Bauerndörfer, die Felder, trockenen Wiesen und Wälder. Der Graf nahm von seinem Land Besitz. Es war ein erhebendes Gefühl, sogar für den kleinen Lothlann.

Ja, man konnte den Eindruck gewinnen, dass dieser reitende Herr die selbstbewusste Antwort der Menschen auf alle Götter war. Jeder Schlag war eine Herausforderung. Hier herrschten die Menschen! Hier herrschten die Sember, die Traubensteiner und ihre Ordnung. Und der Graf – er war ihr Gott – ein Gott, den die Menschen sich selbst geschaffen hatten. Niemand sonst wagte es, durch eine solche Lautstärke, einen solchen Auftritt die Aufmerksamkeit der höchsten Kräfte auf sich zu ziehen und ihnen so eisern die Stirn zu bieten. Er aber hatte keine Angst! Er musste den Vergleich nicht scheuen! Alle Zuschauer, ja wohl jeder Mensch, wäre er dabei gewesen, wurden mit Bewunderung und Stolz erfüllt. Sie alle waren er. Und er war der Traubensteiner, der Nachfahre des Ersten.

Nun setzte der helle Klang der Schalmeien ein. Endlich war der Graf bei ihnen angekommen. Lothlann kniete mit den anderen nieder, als das übergroße Pferd vorüberschritt. Er konnte einige Blicke erhaschen. Der Herr, majestätisch, martialisch und aufrecht, glich ganz dem Portrait. Die Triller der Schalmeien fanden in den hunderten Locken des Grafen ihr Widerspiel. Seine schwere Löwenmähne schien zu leben, wie Wasserstürze umrahmten die Zottel das edle Antlitz. Darüber ein breitkrempiger Hut, mit überquellenden Federn besäumt. Der Graf erschien Lothlann als reitende, strahlende Festung, mit Mauern aus teurem, schwerem Stoff und undurchdringbaren Locken, und Zinnen aus Goldsaum und Federwerk.

Und hier, als er dem Grafen so nah war, begann Lothlann Randal vielleicht zum ersten Mal zu verstehen. Mit einem Mal sah auch Lothlann die Versprechungen der Ordnung, der Randal so sehr verfallen war. Keine Nebel und Hirngespinste – Es war alles wahr! Lothlann wollte sich bereitwillig in den Schutz des Grafen stellen, dieser reitenden Festung. Nun sah er das wahre Zentrum, die wahre Spitze der Welt. Kein Tyrann, sondern ein Herr. Sein Herr. Er herrschte gerecht und gütig, ihn wollte Lothlann anerkennen. Aus den adeligen Augen sprach grenzenlose Weisheit und Weltkenntnis, aber auch der Zorn des Gerechten. Gnade und Härte. Ohne Zweifel kannten diese Augen alle Höhen und Abgründe, alle Stärken und Schwächen der Menschen. Sie mussten schon so viel gesehen haben. Vor Lothlanns innerem Auge mutierte der Graf zum Löwen, der alle Tyrannen, die sein Kopf nur entwerfen konnte, mit einem einzigen Fingerzeig zu Boden zwang – dorthin, wo die Hufe den Staub aufwirbelten. Gorlan musste sich vor ihm auf den Boden werfen! Und Barthelme musste sich hinwerfen, bereuen, und weinen! Und Barthelme würde sich entschuldigen und ihn lieben!

Das Pferd des Grafen scheute einen Moment. Der Traubensteiner aber gebot ihm unbeirrt, lenkte es mit Ruhe, Kraft, und fester Hand auf den Weg zurück. In Lothlann keimte Hoffnung auf. Waren die Zeiten der Not, die Zeiten der Anpassung und Improvisation nun vorbei? Vermochte dieser Herr die Welt in ihre Fugen zu lenken. Mussten man nun vielleicht nicht mehr bloß so tun, als ob?

Lothlann erlebte den Festzug also mit weit aufgerissenen Augen und voll von tiefster Zustimmung mit. Auf den Grafen folgte die Familie, ebenfalls beritten. Lothlann bestaunte die Erscheinungen. Die Frauen, Gräfin Tessele Alaine und die junge Herrin Andalie Miri, waren über und über mit Spitzen und mit Perlen aus den Tiefen der inneren See angetan, wie sie seit jeher die mächtigen Semberinnen zierten. Sie fingen das Licht und sandten es wie kleine Sonnen hundertfach in alle Richtungen. Die Gräfin selbst war nun nicht gerade von großer Anmut, aber sie trug ein weises und fröhliches Glitzern in ihrem Blick. Mit den Frauen ritt auch der jüngere Sohn des Grafen, Estorn Veith, kaum älter als Lothlann. Während der Graf an der Spitze das Haubt leicht senkte, um beim Durchreiten der Ehrenpforte der Erdenmutter seinen Respekt zu erweisen, brach die Menge in Vivat-Rufe aus. Gleichzeitig ritt Randin Sixt, der älteste Sproß, vorüber und nickte hier und da aufmunternd in die Menge. Ihn bejubelte man ganz besonders, und man streute ihm Blumen auf den Weg. Denn man feierte damit seine Erfolge als Admiral der Flotille, die Saerloon zur Bekämpfung der Piraten und Thayaner ausgeschickt hatte. Als Kriegsbeute baumelte, für jedermann gut sichtbar, ein thayanischer Säbel von Randins Seite. Und später sollte ein Wagen folgen, der über und über mit thayanischen Beutestücken, Exotica von unschätzbarem Wert, beladen war.

Dann kam der weise Mann der Deneir geritten. Er war Gelehrter, Übersetzer, Sekretär und Berater des Grafens, sowie Lehrmeister der Sprößlinge. Ein ziemlich beleibter Mann war das, um dessen Gesicht sich zahlreiche Halswülste legten. Sein durch eng sitzende Augengläser fokussierter Blick erschien Lothlann sehr streng und tief. Gretia hatte Lothlann mit besorgtem Blick erzählt, dass dieser Mann von seinem Gott mit Gaben versehen worden war, die ihren und Lothlanns Geist bei Weitem übersteigen würden. Er solle nur stets achtgeben, dem Herrn alles recht zu tun und nicht anzuecken.

Dann die Kapelle. Zwei Heerpauker beritten vorne weg, die wild in die Trommeln schlugen – ein Wunder, dass sie nicht vom Pferd fielen! – dann die Schalmeien und zwei Fagottisten zufuß hinterher, alle in einheitlicher, rot-schwarzer Livree, in den Farben des Wappens derer von Traubenstein. Und dann die Kammerdiener und Kammerzofen! Und dann die anmutigen Gianntiah-Pastoralinnen, in langen, reinen und weißen Kleidern, die jungen voran, die älteren hernach! Und dann die etwa zwanzig Leibgardisten, Trabanten, wie auch Randal einst einer gewesen war, mit blitzenden Hellebarden und Brustpanzern. Volllstrecker der Gerechtigkeit! Vollstrecker Helms und Siamorphes, vereint in der Person des Grafen.

Mehr von dem feierlichen Zug konnte Lothlann von seiner Position aus nicht erspähen, denn der Zug hatte vor dem Schlosstor halt gemacht. Man sah, wie der Burggraf vor dem berittenen Grafen einige Worte sprach, und sich dann formvollendet verbeugte. Schließlich näherte er sich geduckt (aber anmutig!) seinem Herrn und übergab diesem einen großen, in der Sonne gleißenden Schlüssel. Der Graf neigte sein Haupt in Zufriedenheit, hielt den Schlüssel für jedermann sichtbar in die Höhe und gab schließlich seinem Pferd die Sporen, um das Schlosstor zu durchreiten.

Über viele von Lothlanns Eindrücken ließe sich an dieser Stelle noch berichten. Der erste Programmpunkt des Grafenritts war hiermit jedoch abgeschlossen. Sobald der gesamte Festzug in das Schloss eingezogen war, lockerten sich die Menschentrauben am Festweg allmählich auf, um nun – bis zum nächsten Programmpunkt – frei und individuell den Tag zu feiern. Von Windberg bis zur Schlossmauer wurde fröhlich getrunken, gegessen und gespielt. Welch ein Glück, dass der Grafenritt stets im Herbst, nach der Ernte, begangen wurde! Während Randal sich in Gesellschaft seiner Bauernwitwe prächtig unterhielt, lief Lothlann umher. Er war an diesem Tag ein unermüdlicher Sammler von Eindrücken aller Art. Doch als es schließlich zu dämmern begann, musste er eine fürchterliche Entdeckung machen. Zuerst sah er nur einen. Bald schon aber häuften sie sich...

[Bildmäßig fällt dieser Teil zeitbedingt nur ganz mickrig und skizzenhaft aus. Gretia, Randal und Lothlann erwarten den Grafen]
Bild

PS: Ich habe eine kleine Übersicht in den ersten Beitrag gestellt.

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: So 24. Nov 2013, 19:43 
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IX (2). Von Sharess' Herrlichkeit – Spektakel der Sinne

An diesem Herbsttag mischten sich die Schatten früh unter die Festgesellschaft. Mit dem klaren Licht des Tages verflüchtigte sich auch die Klarheit der Gedanken und der Sinne. Was am Tag in heller Ordnung – die Spalier stehenden Delegationen, die sauberen Festtagskleider und das ehrfürchtige Schweigen, das kippte am Abend ins Schiefe. Festweg und Schlosshof verwandelten sich in ein Chaos aus durcheinander gewürfelten, lachenden, saufenden und fressenden Menschen, die sich zwischen zwei aufgespannten Schlachtochsen der Ausgelassenheit hingaben und in den heißen Schwaden der Freudenfeuer kaum Luft bekamen.

Überall dort, wo der Schein der Feuer nicht hinreichte, lauerte indes die Dunkelheit. Die Festgesellschaft glich einer Insel in einem Meer aus Nacht. Ja, fast stellte sich der Eindruck ein, als wäre die Hemmungslosigkeit der Gäste nur ihrer Verzweiflung geschuldet: Sie alle feierten ihre letzten Momente, bevor die Dunkelheit ihren Kreis enger um sie ziehen und sie verschlucken würde. Die Flammenzungen warfen ringsum lange Schatten, in denen parallell zu den hiesigen Gästen auch die Gäste der Anderswelt ihr Fest einrichteten. Bizarre Schemen und finstere Silhouetten sammelten sich überall an den Grenzen des Lichts - bei den Weinstöcken und Feldern, hinter den Bäumen. Überall ahnte Lothlann sie.

Dann aber kamen sie wirklich. Schleichend, tückisch, unbemerkt. Infiltration. Die Finsternis zerrte sich immer länger und länger, bis die Verteidigung löchrig wurde und die Nacht sich mit den Schatten vermischte. So gelangten die ungebetenen Besucher unter die Gäste. Die Rauchschwaden gaben den ersten dunklen Gast preis: Ein düsterer Anblick, der Schädel widernatürlich groß und in die Länge gezogen, dicke Strähnen, die ihm aus den Schläfen quollen, die Haut von tiefen Rillen durchpflügt, die Nase und die Ohren bloße Zerrbilder. Das schlimmste aber war der Schlund, den wohl der Wahnsinn zu einem widerlichen Grinsen verunstaltet hatte.

Der Anblick des Besuchers machte Lothlanns fröhlichem Eindrücke-Sammeln ein jähes Ende. Er nahm Reißaus, lief und stolperte durch die feuchtfröhliche Gesellschaft, in Richtung vo Randals Tisch. Doch die Schatten stiegen ihm hinterher. An allen Ecken drehten sich ihm die Gesichter der Nacht zu, eines gräßlicher als das andere. Überall tauchten sie im Feuerschein auf, diese Missgeburten, um seine Fluchtversuche zu verlachen. Und niemand half ihm. Als wäre die Welt verrückt geworden, tranken die übrigen Gäste fröhlich weiter. Ja, mehr noch, sie stießen sogar mit den Wesen aus dem Schatten an. Lothlann wurde aus Angst – und freilich durch den Wein* – schwindlig und schlecht, als er sich polternd seinen Weg durch die Festgesellschaft bahnte.

Endlich erreichte er die Tafel im Schlosshof, an der auch Randal mit dem übrigen Hofgesinde saß. An diesem Tisch schien sich keiner der Teufel eingenistet zu haben. Bei Randal war neben der Bauernwitwe und dem gräflichem Jagdmeister kein Platz mehr. Und auch der Weg zu Gretia in die Schlossküche war ihm heute durch die Wachen versperrt. Also führte sein letzter Fluchtweg geradewegs zu Fuchur. Lothlann gesellte sich zu seinem Hundefreund auf den Boden, neben – um nicht zu sagen: unter die Sitzbank. Dort hielt er mit angstgeweiteten Augen nach den Schattenwesen Ausschau und duchkraulte das Hundefell. Meister Randal zu stören, wagte er nicht.

Lange musste er aber nicht wachen. Eine schrille Trompete donnerte vom Schlosstor her. Ohne Zweifel musste dies endlich das Alarmsignal sein! Endlich hatten also auch andere die Schattenwesen entdeckt? Jetzt würden die gräflichen Trabanten anrücken und die Bestien vertreiben! Bloß - die Panik ließ auf sich warten. Im Gegenteil, viele schienen erfreut über das Trompetensignal. Die Gesellschaft an Randals Tisch erhob sich, und strebte vergnügt plaudernd und ohne den geringsten Anflug von Eile dem Schlosstor zu!

Lothlann blieb an seinem Platz kleben. Er zog es vor, die folgenden Ereignisse aus der Ferne mitzuverfolgen. Er hörte ein weiteres Mal die Trompete, dann wilde Schreie. Die Menschen scharten sich immer dichter um das Schlosstor, aber nichts strebte auseinander, nichts rettete sich in der Flucht. Spätestens jetzt, als er im Schlosstor eine ganze Gruppe der Scheusale ausmachen konnte, die von den Menschen umzingelt, begafft, ja sogar animiert wurde, spätestens jetzt kamen ihm einige Zweifel. Freilich, er blieb sicherheitshalber weiter in seinem Ausguck.

Soviel er im Feuerschein erkennen konnte, taten die Scheusale ihr Bestes, die Zuschauer zu erschrecken. Sie waren es, die wild in die Trompete bliesen und dazu das Tambourin schlugen. Einige zogen sogar Säbel um die schönsten Mädchen im Publikum zu bedrohen. Dabei erreichten sie aber nachgerade das Gegenteil: überall lachende Gesichter, ja man beklatschte die Ungetümer und ihre Versuche sogar. Lothlann sah, wie eines der Ungeheuer mit der Hand, die er immer wieder in eine Schale tauchte, Blut in die Zuschauer zu verspritzten schien, was den davonspringenden Opfern das größte Amusement bereitete.

Dann wurde das wilde Treiben im Schlosshof durch einen Paukenknall beendet. Auf das Kommando hin ließen die Scheusale von ihren Opfern ab um sich alle in der Mitte des Schlosshofes zu sammeln. Ein weiterer Paukenschlag! Die Menge verstummte, alle Blicke richteten sich nun gegen Schloss Traubenstein. Und dort sah man, wie die Umrisse einiger Reiter den Weg entlang dem Schlosshof näherten. An der Spitze war ihr Herr, der Graf, prächtig angetan mit einem schwarz glänzenden Brustpanzer. Die Menschenmenge brach auf, um ihm den Weg zu den Ungeheuern zu öffnen, vor denen er sein Pferd anhielt. Eines der Scheusale trat vor und brach heraus:

"Welcher Mensch ist so töricht, sich uns in den Weg zu stellen?"

Darauf gab der gnädige Herr lautstark zurück: "Ich bin der erste der Unsrigen! Soweit ihr seht, ist alles im Namen der Erdenmutter unser! Wir weichen euch nicht. Bekennt euch, Scheusale!"

Die Monster im bedrohlichen Chor: "Wir sind die Vielen! Die Alten! Die Ewigen! Wir sind Fe'chn Mah'rails! Wir sind nicht deiner Götter!" Dazu reckten sie ihre hässlichen Köpfe, duckten sich und zischten. Dann legte sich eine gespannte Stille über alle Anwesenden.

Der Graf wurde nachdrücklich. Während sein Pferd in aufgeregter Vorahnung zu stampfen begann und den Kopf hin und her warf, zog er sein Schwert und drohte ihnen damit. Dann gab der erste Traubensteiner den Schattenwesen mit voller Kraft zu verstehen: "Hinaus mit euch, sage ich, hinaus! Zurück in den Schatten! Oder ich will euch zwingen!"

Die Scheusale aber wichen nicht, sondern erwiderten die Drohung: "Wir waren vor euch und werden nach euch sein!"

Dann ging es los! Zu Lothlanns Überraschung schrie nun die versammelte Menschenmenge mit einer Stimme: "Aber niemahlen MIT uns!" Spätestens hier schien der Mut die hinteren Reihen der Unholde zu verlassen. Einige schienen nur darauf gewartet zu haben und wandten sich nun ohne Umschweife zu Flucht. Auch der Graf fackelte nicht lange, sondern gab seinem vor Feuer dampfendem Pferd die Sporen, trieb es geradewegs auf die Gruppe der Scheusale zu. Er zersprengte sie augenblicklich und teilte mit seinem Schwert Hiebe auf ihre überlangen, hölzernen Köpfe aus. Der Weg der vorderen Unholde war zunächst von den hinteren versperrt, sodass sie alle ins Chaos stürzten, einer über dem anderen. An den Grafen schlossen nacheinander weitere Reiter an, welche nun ebenfalls auf die Unholde einzudrängen begannen. Die Mitstreiter des ersten Traubensteiners! Die Menge begüßte jeden einzelnen Einreitenden lautstark, indem sie seinen Namen rief.

So trieben die mythischen Traubensteiner wie vor tausenden Jahren die Feinde der Menschen zurück ins Dunkle. Die Unholde kullerten über den Boden, stolperten und versuchten ihre Haut zu retten, überall bedrängt und gepresst zwischen wuchtigen Rossleibern, schnaubenden Nüstern und stampfenden Hufen. Das Publikum setzte ihnen mit einer ohrenbetäubenden Kakophonie aus Jubel- und Schmährufen weiter zu. Wohin sich die Fratzengesichter auch wenden wollten, überall war ihnen ein Reiter auf den Fersen.

Nun waren es also die Schattenwesen, die Hals über Kopf fliehen mussten! Der erste Traubensteiner zahlte ihnen die Missetaten heim. Lothlann würde nicht mehr fliehen müssen! Die Menschenrecken fielen wie Raubtiere über sie her! Es war wahrlich ein gewaltiges Schauspiel, das alle Herzen mit Tatendrang, Stolz und Mut erfüllte. Auch Lothlann schmeckte die Glorie des Augenblicks. Es waren überwältigende Bilder, wie die Pferde im Feuerschein in die Feinde schmetterten, und die Unholde als Welle vor sich her trieben. In der Ferne blitzte die schwarzen Rüstung und das Schwert des Grafen, das da immer wieder zuckte und auf die Feinde niederging. So wurden die Schattenwesen zurück ins Dunkel gertrieben, aus dem Schlosstor hinaus in die unbeleuchteten Weingärten. Noch aus der Finsternis hörte man die Rufe der Reiter, und aufgeregtes Wiehern.

Nach einer Weile kehrten dann nach und nach die siegreichen Reiter zurück, darunter auch die Sprösslinge des Grafen. Verschwitzt und abgekämpft wurden sie von der Gästeschar umzingelt und gefeiert. Überall griffen die Hände nach den Reitern. Alle wollten sich durch eine Berührung eines Mythischen Segen verschaffen. Auch die Pferde wurden gestreichelt und beklopft. Das Gedränge und die Verwirrung hielt an, bis auch die ersten Unholde ihren Weg aus den dunklen Gärten zurück gefunden hatten. Teils mit ihren Masken unter dem Arm, wurden sie nicht nicht weniger enthusiastisch als die Reiter bejubelt – für ihre schauspielerische Leistung und für ihren Mut, den Schlachtrössern die Stirn geboten zu haben. Scheinbar hatten alle Orte der Herrschaft zumindest einen Unhold, einen kräftigen Burschen oder auch sogar das eine oder andere Mädchen, zu dem Spektakel beigesteuert. Jeder Ort feierte sein Scheusal. Und wenn ein Unhold humpelnd zurück kam, wurde er nur mit umso größerem Jubel willkommen geheißen, als wäre die Verstauchung die höchste Auszeichnung.

Nun wurde erst so richtig gefeiert. Tambourins, Flöten und Schellen erklangen, und man ließ es mit etwas Rauchpulver hier und da ordentlich knallen. Alle Tische und Bänke füllten sich, meistenteils geordnet nach den einzelnen Orten, und um den Weinbrunnen drängte es sich. Die Unholde wurden von allen Seiten betätschelt und gefeiert, Geschichten von schmerzhaften Begegnungen mit Pferden herumgereicht. Der Graf, dem man gerade den Panzer abnahm, und die höheren Herren, hatten eine separate Tafel, die von einigen Trabanten umstanden wurde. Und es dauerte auch nicht lange, bis die ersten Körper durch die Rauchschwaden wirbelten. Hier finden wir auch Lothlann wieder, wie er die wild drehenden Pärchen bewundert! Der Ansager warf immer wieder Anfeuerungsrufe ein, fachte sie zu immer waghalsigeren und schnelleren Drehungen an, und die nackten Füße flogen und fegten über den Boden, die Röcke bauschten und blähten sich im unzähmbaren Schwung. Und daneben stand wie ein kleiner begeisteter Klotz Lothlann, der seine Augen einfach nicht von dem wundervollen Tanz abwenden konnte und sich von der Musik ganz in den Bann der schönsten Rotationen ziehen ließ.

Auch bei unserem Protagonisten hat also die Magie ihre Wirkung schließlich entfaltet. Immer stärker hatten die Eindrücke auf ihn eingearbeitet, bis sie ihn schließlich überwältigt und aus seinem Versteck bei Fuchur gelockt hatten. Lothlann freundete sich an diesem Abend mit der Anderswelt an. Er legte, sowohl aus Erschöpfung über die Furcht als auch aus Neugierde, die Angst vor dem Dunkeln ab. Er fühlte sich zunehmend selbst wie ein Wesen der Zwischenwelt, gab sich seinem Schicksal ganz hin, ließ mit sich machen und befreite sich von den lästigen und anstrengenden Sorgen um sich selbst. Er klammerte sich nicht mehr an das Licht. Er lachte nun mit den Fratzengesichtern, wurde ihr Bruder und Gleichgesinnter und tat es ihnen gleich: er ging an diesem Abend als Wahnsinniger durch die Nacht. Ohne zu wissen, wo oben und unten ist.

So pendelte er zwischen den Tischen, ließ sich bald hier, bald dort eine Weile nieder, war vergnügt (aber stumm) wenn jemand ihm Beachtung schenkte (und sei es nur ein Blick), aß und trank kräftig, hüpfte etwas mit und bewunderte die Tanzenden. An diesem Abend war niemand niemandem fremd. Und von Lothlann, der so lang gedürstet hatte, wurde besonders stark von den Lebensgeistern ergriffen. Die Welt versöhnte sich mit ihm. In all dem Trubel keimte Hoffnung auf, dass die Welt womöglich auch für ihn etwas bereit halten konnte. Freiheit und Genuß lagen in der Luft! Lothlann naschte und probierte zwischen den Freudenfeuern von der Welt. Er berauschte sich wahllos an den den Gesichtern, in der ganzen Vielfalt, wie die Götter sie erschaffen hatten. Unterschiedslos interessierte ihn mal die knollige Nase des Jägermeisters, mal hörte er sich an der Stimme des Reitknechts fest, mal zeigte es sich von den Perlen auf der Haut der verschwitzten Tanzenden fasziniert, und wiederum ein anderes Mal genoss er die Wärme des Feuers auf Füßen und Gesicht. Alle schienen heute ausgelassen und fröhlich, und niemand nahm an ihm Anstoß. Er gehörte heute dazu.

Feiern, Musik, Tanzen, Gröhlen, Lachen, Wein, Fleisch, pulsierendes Blut! Bis in alle Ewigkeit und noch weiter! So wäre es an diesem Abend allen recht gewesen. Aber schließlich holte sie doch die Erschöpfung der Glücklichen ein. Als sein Schatz an Eindrücken groß genug war, und seine Meinung von der Welt eine bessere, ergab sich auch Lothlann trunken vor Seeligkeit der Erschöpfung. Er fand zurück an den Tisch, an dem sich Gretia, die herzensgute Köchin, eingefunden hatte. Sie half ihm aus und bot ihm ein warmes Lager an ihrer Seite. Also nahm er von der Zwischenwelt Abschied und ließ sich von vertrautem Menschengemurmel und Gretias Wärme in einen festen Schlaf begleiten.

Und damit war Lothlann dem Gebrochenen zum ersten Mal entglitten. Dieses Mal war die tanzende Dame mit aller Macht dazwischen gefahren, indem sie ihr Füllhorn der Sinnlichkeiten über Lothlann ausgeschüttet hatte. Und siehe da, sie hatte mit ihm wohl eine gute Wahl getroffen, war er doch allzu leicht zu überwältigen gewesen. Einmal von ihren Verlockungen gekostet, wollte er nicht mehr gerettet werden. Der Sinnesschatz, den Lothlann an diesem Abend in seinem Herz gehortet hatte, galt ihm soviel mehr als alle Linderungen, die der Gebrochene ihm nur in Aussicht stellen konnte. Nicht bloß Erlösung vom Verzagen, nicht bloß Ausgang aus dem Leid, nein, Sharess' Gaben waren aus sich selbst heraus schön und erfüllten ihn mit mehr mit Zuversicht und Mut als alles andere. Er war an diesem Abend glücklich, nicht bloß erleichtert. Und er hatte an diesem Abend tatsächlich gelebt, nicht bloß überlebt. Die tanzende Dame schickte ihm die schönsten Träume. Und er war ihr dankbarster Träumer.

* (Brunnen)Wasser unvermischt zu trinken war in vormodernen Zeiten keine gute Option - es sei denn, man findet Gefallen an allen möglichen Krankheiten. Jedem Tierchen sein Plaisierchen!

Musikvorschlag für die Schatten
Party! - oder mehr volksfestlich

Lothlann bei Gretia (eigentlich nicht fertig, aber was solls)
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Skizze mit zu klein geratener Gretia :?

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Ein Unhold
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Zuletzt geändert von Lothlann am Sa 9. Aug 2014, 23:03, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Sa 18. Jan 2014, 00:07 
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[Leider, wie der Titel schon sagt, eher unaufregend, aber ich muss da drüber. Nächstes Mal sollte es dann (neben der Jagd!) endlich wieder etwas mehr Handlung, Action und Entwicklung geben...Aber wenn es nur Entwicklung gäbe, dann fehlten doch irgendwo Kontext, Stimmung und Verständnis? Vielleicht ist es auch nicht ganz uninteressant, auf einige Strapazen des Lebens in vormodernen Zeiten hinzuweisen, sofern man nicht annimmt, dass an allen Ecken und Enden Faeruns inflationär Magie gesprüht hätte, und die Faeruner in einem paradiesischen Utopia gelebt haben, in dem sich alles von selbst erledigt?]

Musik

X. Intermezzo: Holz, Ruß und Fleisch – vom Alltag eines gräflichen Kammerheizerknechts

Die Ankunft des gräflichen Herrn veränderte einiges im alltäglichen Rythmus der Diener. Das galt freilich auch für Lothlann. Nun erst erfuhr er, was es bedeutete, ein Kammerheizergehilfe zu sein; Was es bedeutete, seinen Teil dabei beizutragen, aus dem Mensch einen Gott zu machen. Er war Teil der Maschine, die jene Majestät und Erhabenheit erzeugte, nach der sich die Menschen so sehr sehnten, und ohne die sie nicht auskamen, ohne die ihre Welt keinen Sinn ergab. Wollen wir also zusehen, wie unser Gehilfe seine Spätherbsttage zu verbringen pflegte, und welche Aufgaben der Meister ihm übertrug.

Das Aufstehen des Kammerheizerlehrlings erfolgte stets vor der Dämmerung. Bis zum Lever der gräflichen Familie war ein dichtes Programm zu absolvieren. Also hinaus aus dem Strohlager! Zuerst musste der Lehrling seine eigenen Glieder überwinden, die, vermeintlich allzu früh aus ihrer Ruhe gerissen, voll des Vorwurfes fröstelten und den Dienst verweigerten. Dann ging es hinaus in den Hof, wo der Herbstwind in manchen Nächten einem die Haut vom Körper schneiden wollte. Spätestens jetzt formte sich der Rücken des Lehrlings zu einem Buckel, und spätestens jetzt suchte er seinen Kopf zwischen den Schultern zu vergraben, um dieser grässlichen Welt zu entrinnen. Auch die Augen verschlossen sich dem gemeinen Wind, der unablässig seine Kälte tief in alle Poren blies, dem Filzumhang, mit dem sich der Lehrling stets fest umwickelte, zum Trotz.

Doch der Lehrling musste weiter. Er bewegte sich, mit wenig Grazie zwar, aber doch, zum Holzgewölbe. Dort fiel er vor dem Feuer Kossios, wie man den Feuergott in diesem Lande zu nennen pflegte, ein wenig eingerostet und erfroren auf die Knie. Er öffnete die kleine Laterne, in der das ewige Licht Kossios flackerte - ein kleiner, warmer Hoffnungsschimmer in der sonst so dunklen Szenerie. An seiner Flamme verbrannte der Knecht eines der vorbereiteten Papierzettelchen. So musste der Feuergott besänftigt werden, bevor die Öfen entzündet, oder auch nur ein Holzscheit berührt wurde! Jeden Tag opferte man ihm ein dutzend Kühe, drei Ballen Seide, fünf Fässer Wein, oder was auch immer sonst auf den Opferzettelchen geschrieben stand – Lesen konnte der Lehrling freilich nicht, aber war voller Zuversicht, dass Kossio es konnte. Sodann verharrte der Knecht noch einige Zeit erfürchtig vor dem Feuer, um seinen starren Fingern die göttliche Wirkung, wir nennen es Wärme, angedeihen zu lassen. Die Flamme würde bei den allmorgendlichen Arbeiten die einzige Gesellschaft des Heizerknechts sein. Sonst ringsum nur Stille und drückende Einsamkeit.

Von Kossio gestärkt, ging der Lehrling mit schlotternden Lippen an seine Kernaufgabe – es war dies eine Aufgabe, die er mit vielen Lehrlingen anderer Handwerke teilte: das Tragen. Der Feuersgefahr halber vebot sich nämlich die Lagerung des Holzes im Schloss. Täglich musste deshalb ein Viertel bis ein Drittel Klafter mit der Kiepe in die Residenz hinauf befördert werden. Mit dem ersten Schnee würde sich dieser Teil der Arbeit weniger unangenehm gestalten, hatte der Meister seinem Knecht versichert, denn dann konnte man das Holz auf dem Schlitten zum Schloss ziehen. Bis dahin aber blieb die Kiepe das einzige Beförderungsmittel. Also los los, hinein in die Handschuhe und die Hotte vollgemacht! Einen Vorteil hatte diese Arbeit aber: mit dem Frösteln war es nun vorbei!

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Mit Kossios Laterne in der Hand und der Holzlast auf dem Rücken, stapfte der mittlerweile rot angelaufene Gehilfe durch die Dunkelheit. Ein Bein stets in Bodenfühlung – das war das beste Mittel gegen die Widerspenstigkeiten des Körpers, der unter Last allzu gern das Gleichgewicht verlor. Wichtig nur, dass man die Füße auch wieder vom Boden lösen konnte, was bei Regen und Schlamm nicht immer ein Leichtes war. Oben angekommen, reinigte der Gehilfe seine im Weg versunkenen Schuhe, oder ließ diese in hoffnungslosen Fällen gleich ganz stehen, um sodann über die Küche das Schloss zu betreten. Die Dunkelheit der Nacht erfüllte zu dieser Stunde auch noch die Zimmerfluchten der Residenz. Um Stille bedacht, musste der Gehilfe sich und seinem Holzgepäck also im Schein der Funzel den Weg durch die schwarzen Korridore bahnen. So manche Ecke kostete unseren jungen Knecht einiges an Überwindung und böse Träume. Aber täglich erreichte das Holz sein Ziel: einen Ofen in jenem Saal, den Graf und Gräfin täglich tagsüber zu bewohnen pflegten, und einen Ofen in der Schreibstube, wo der weise Mann der Deneir seine Kanzleiaufgaben wahrnahm und den gräflichen Sprösslingen Unterricht gab.

Und dann: das ganze von Neuem. Vier bis fünf Hin- und Rückwege musste Lothlann hinter sich bringen, um das Holz hinauf zu schaffen, zumindest bis er kräftiger und größer gewachsen sein würde. Bis die beiden Stöße auf diese Weise zu den Öfen befördert waren, vergingen gut und gerne anderthalb Stunden, rechnete man nicht nur die Wege, sondern auch das Be- und Entladen der Kiepe mit ein. Nicht selten vergaß Lothlann darüber den Zweck seiner Arbeit. Ab dem dritten Durchgang beschritt er den Weg zum Schloss oft wie in Trance, als wäre er der ewige Träger, der einzig und allein in dieser Arbeit existierte. Nicht über die Arbeit nachzudenken, das half sicherlich bei der Bewältigung der Strapazen. Bevor der Knecht sich aber das fünfte und letzte Mal auf den Weg zurück zum Holzgewölbe machte, musste er stets den Ruß aus den Öfen in einen Kübel schaufeln – er würde dem Meister nämlich später zur Tintenherstellung dienen.

Dann weckte der rußige Lehrling seinen Meister. Mit ihm zusammen musste nun auch noch das Holz für die Küche befördert werden - eine Plackerei, die zu zweit bewältigt wurde. Dann, im ersten Morgenlicht, vollbrachte der Meister sein Werk: er heizte die Herrschaftsöfen an. Der Lehrling hatte ihm dabei freilich nur zu assistieren, nicht mehr. Schließlich war der Lehrling nicht der Meister: er genoss nicht das Vertrauen, nicht die Fertigkeit im Umgang mit dem Feuer, und besaß letztlich auch nicht den Rang, um an den Herrschaftshöfen zu hantieren. Zum Einsatz kam der Gehilfe indes wieder bei der Reinigung der Gemächer von den Verschmutzungen, die das Einheizen unweigerlich verursachte. Das Kehren der Stuben und das Wischen der Öfen lag wieder in seinem Aufgabenbereich, und zählte zu den angenehmeren Arbeiten. Sehr gerne reinigte Lothlann die kunstvollen, mit floralen Ranken bemalten Kacheln der Herrschaftsöfen und die Schachbrettmuster der Bodenfliesen. Hin und wieder, und freilich im Heimlichen, pflegte er für einige Momente seine Hand auf eine der Kacheln zu legen, sobald diese die erste Wärme des Feuers in sich aufgenommen hatten.

Aber der Tag hatte schließlich mehr als zwei Stunden, und die Tätigkeiten des Kammerheizers beschränkten sich keineswegs auf die Morgendämmerung, wenngleich diese Arbeit zweifellos die unangenehmste und markanteste war. Das Nachlegen der Öfen (in unmittelbarer Präsenz der Herrschaft!) übernahm Randal. Aber was ist mit all den anderen Mitgliedern der gräflichen "Familia"? Zur engeren Aufgabe des Heizers gehörte es zwar nicht, aber dennoch übernahm Randal auch deren Versorgung mit Feuerholz. Er verstand sich darauf, in Windberg Feuerholz einzukaufen und dieses auf dem herrschaftlichen Wagen (was der Graf durchaus duldete) zum Schloss zu führen, wo es an all jene, die nicht die Dienste des Kammerheizers genossen, mit einer kleinen Spanne weiterverkauft, und in kleinen mobilen Öfchen oder gar im Freien verheizt wurde. So fuhren Lothlann und Randal regelmäßig, zumindest einmal im Zehntag, nach Windberg, und die Plackerei ging weiter. Nur die zahlenmäßig stärkste Gruppe, die Leibwachen oder Trabanten, waren größtenteils in Windberg untergebracht (wo viele Familie hatten) und versorgten sich selbst.

Lothlann half Randal auch bei der Tintenherstellung. Er besorgte vom Brunnen das Wasser, das sie über ihrem kleinen Ofen aufheizten, und mit dem zerstossenen thay'schen Gummi, den Randal stets in Saerloon einkaufte, und Ruß zu versetzten. Und Lothlann begleitete seinen Herrn auf mancherlei andere Wege, die dieser im Auftrag des Grafens bestritt – tatsächlich war Randals Aufgabengebiet nämlich viel größer als es der bloße Titel erwarten lassen hätte, und viel zu groß, um den Leser an dieser Stelle mit weiteren Aufzählungen zu langweilen.

Die zweite große Veränderung in Lothlanns neuem Alltag betraf die Mahlzeiten. Bisher wurde er ja, wie wir gesehen haben, von seinem Meister unterhalten. Und hier hatte er sich soviel Sympathien erworben, dass er die Konkurrenz der Bauernwitwe nicht mehr zu fürchten brauchte. Aber all das war nun passé.

Der Graf selbst pflegte zweimal täglich zu speisen. Mit ihm saß auch die "Familia" zu Tisch. Der lichtdurchflutete Speisesaal, welcher für den eingeborenen, ruralen Traubensteiner (der in einer einzigen Kammer oder eher noch im Freien seinen Alltag zu verrichten pflegte) ohnehin ein Kuriosum war, wurde beinahe zur Gänze von einem langen Tisch ausgefüllt. An dessen Haupt saßen stets Graf und Gräfin, an den Seiten die jungen Herrschaften, der Mann der Deneir (Hofmeister und Sekretär), dann Stall-, Jagd-, Küchenmeister, der Burggraf, der Trabantenhauptmann, sowie zwei Leibdiener und eine Kammerzofe, alles in allem vierzehn Personen. Das Tischende, gegenüber dem höchsten Paar, blieb unbesetzt. Das Prozedere war immer das nämliche: eines der Kinder dankte der Erdenmutter, dann trugen die Kammerdiener und die Zofe die Speisen heran um sie zunächst dem Graf und der Gräfin anzubieten. Erst danach verteilte man die vollen Teller über den Tisch, und jeder nahm sich in der Reihenfolge seines Ranges davon.

Freilich war dies ein gräflicher Tisch und es gab von allem reichlich, sodass immer viel übrig blieb. Hatte der Graf sich satt gegessen, verließ die erste Garnitur der Esser den Tisch und die erste Schar der sogenannten Nachesser rückte an. Der Schreiber des Deneirgelehrten, die Musiker, Meister Randal, und auch Gorlan, der Torwächter, machten sich mit knurrenden Mägen über die übrig gebliebenen Speisen her. Davon abgesehen gab es an der ersten Nachessertafel auch zwei zusätzliche Speisen, die, wenngleich freilich nicht von der Qualität der ersten Tafel, der Küchenknecht herbeitragen musste.

Und schließlich gab es die dritte Garnitur, die sich nicht selten erst eine Stunde nach der ersten Tafel einfand, und in der sich auch Lothlann zu Tisch setzen durfte. Er befand sich hier in bester Gesellschaft mit Stallknechten und Trabanten. Auch dieser zweiten Nachessertafel wurden noch einmal zwei Gerichte beigegeben, welche nun aber so gar nichts mehr mit den Köstlichkeiten der ersten Tafel gemein hatten. Aber wer an dieser Tafel saß, der war ohnedies nicht sehr wählerisch, oder mehr noch, dessen Geschmacksknopsen hätten die Gewürze und Raritäten der ersten Tafel eher irritiert als verzückt.

Lothlann war nicht nur der dienstjüngste, sondern überhaupt der jüngste Tischbruder an dieser, dritten Tafel. Das erstere war eher ein Makel. Nicht nur, dass der Dienstjüngste als letzter zugreifen durfte – was insbesonders dann unerfreulich war, wenn der eine oder andere Gardist sich über die Gebühr etwas Essen für später einpackte –; auch pflegte man mit Vorliebe den Neuling herumzuschicken, wenn es Botengänge in die Küche zu erledigen gab, oder wenn es Krüge und Geschirr in die Küche zurückzutragen galt. So trug Lothlann also einmal mehr Dinge herum. Wieviel es nicht zu tragen gab!

Lothlanns zweites Charakteristikum, nämlich sein noch recht zartes Alter, gereichte ihm mehr zum Vorteil. Während die Qualität der Speisen vom ersten bis zur dritten Tafel im Abnehmen begriffen war, verhielt es sich bei der Lautstärke der Tischgenossen gerade anders herum. Die Stallknechte und Gardisten waren schon lustige Gesellen! Wenn sie, meist im Saerloon'schen Akzent (welchem zu folgen Lothlann kein Leichtes war) wieder einmal ihre Scherze trieben, fanden sie oft auch ein Vergnügen daran, Lothlann aufzuziehen und sich den einen oder anderen Spaß mit ihm zu erlauben. Sie schienen es ihm, als dem einfältigen Bauernjungen aus der Gegend, aber nie wirklich böse zu meinen. Im Gegenteil, machten sie eher über ihn Witze, weil sie ihm wohlwollend gesinnt waren. Und weil er nie einschnappte, sondern stets alle Witzeleien auf seine Kosten wacker ertrug, belohnten sie ihn oft mit dem einen oder anderen guten Stück, das sonst außerhalb seiner Reichweite gewesen wäre. So gelangte er mit einer gewissen Regelmäßigkeit an Fleisch, das er in Angesicht seiner allmorgendlichen Strapazen bitter nötig hatte.

[nicht fertiggestellt - Trabant im Speisesaal:]
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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Sa 15. Feb 2014, 13:26 
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So, doch nur ein ungewöhnlich kurzes Zwischenspiel. Hat einfach nicht so ganz zum vorigen Abschnitt dazu gepasst. Wie man unschwer erahnen kann, gehts dann nächstes Mal wirklich handlungsmäßig weiter! Und bald wirds sogar ein wenig magisch! :D

XI. Vom Hetzen und Fressen

"Hah! Hah-hap!" rief es an diesem sonnigen Herbsttag durch den Wald. Ringsumher das Geläut der Hunde. Mit hellem Gebell, Jaulen und Japsen schoss die Hundemeute durch das Unterholz. Randal und Lothlann hatten ihre Position in der Treiberlinie. Auf zwei Seiten von langen, mit bunten Lappen behängten Schnüren am Ausbrechen aus dem Waldstück gehindert, an der dritten Seite von Treibern und Hunden bedrängt, blieb dem Schwarzwild nur mehr eine Richtung. Und dort, an der Lichtung, legten der Graf, sein Ältester und einige Windsberger Ratsherren ihre Armbrüste an.

Die Treiber versetzten mit ihren Jagdklappern den Wald in helle Aufruhr und drangen vorwärts. Randal bezog als Führer der Hundemeute noch in der Dickung Position, um das Wild daran zu hindern, sich wieder in den Wald zurückzuziehen. Er stützte sich auf die Saufeder, reckte den Kopf empor und starrte aufmerksam zur Lichtung und in das Dickicht. Lothlann war dicht an seiner Seite. Fast war ihm sein Meister unheimlich, wie er erstarrte um mit dem Wald zu kommunizieren. Alle Geräusche und Bewegungen schienen ihm Sinn zu machen - eine eigenartige, unheimliche Gabe, wie Lothlann fand. Überall rings herum bellte und raschelte es, versprengte Hunde brachen immer wieder wie aus dem nichts zu ihnen durch. Bis zum letzten Moment im Unterholz verborgen, wurden sie von Randal mit Pfiffen und Rufen sofort in eine neue Richtung oder zur Meute voraus geschickt. Er ließ sie suchen, hetzen, stellen, und rief sie namentlich zurück, wenn sie ins Schussfeld verfolgten.

Dann eilte Randal ohne Warnung los. Er hatte wohl etwas gesehen oder gehört. Alles musste plötzlich schnell gehen. Lothlann hüpfte seinem Meister durch das Unterholz so schnell hinterher, wie es sein hölzernes Schuhwerk zuließ. Sehr weit hatte er es nicht geschafft. Und da stand er nun, der Keiler, unweit der todbringenden Lichtung. Aus seiner Flanke ragte ein dicker Bolzen. Er war wohl nicht tief genug gedrungen. Das Schwein wurde von einem Dutzend Hunden umstellt, umzingelt, verwirrt und angebellt. Etwas komisch war es schon, aber der Eber erinnerte Lothlann an einen Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hatte. Wie der schuppenbewehrte Wasserbewohner fand sich auch das Schwein in einer Welt wieder, in der es nicht sein sollte. Es schien nicht zu verstehen, was da gerade geschah, so blieb ihm nichts weiter, als regungslos inmitten der Meute zu stehen, sich anbellen zu lassen, und schwer zu schnaufen. Es wartete, was die falsche Welt mit ihm machte - Es wartete nur mehr auf Randal.

Ohne Umschweife ging dieser ans Werk und versetzte dem Keiler mit dem Spieß den Stoß. Er zwang das Eisen bis zur Parierstange an der richtigen Stelle in das Tier. Mit einem Quiecken und Röcheln ging es recht schnell zu Ende. Randal war versiert, als Jäger oder vielleicht als ehemaliger gräflicher Trabant. Augenblicklich drangen die aufgeregten Hunde auf das Schwein, stießen es mit ihren Schnauzen, als suchten sie nur mehr nach der besten Stelle um das Fressen zu beginnen. "Hooo", ermahnte Randal die Meute. Die Hunde mussten innerlich kämpfen, um sich loszureißen. Nur ein Biss. "Hooo!"

Lothlann hatte sich mittlerweile zu seinem Liebling Fucher gekniet und gratulierte ihm zur erfolgreichen Jagd, indem er ihn wild hinter den Ohren kraulte und auf die Schnauze küsste.

"Hoo-....Hoch mit dir, Lothlann!"

Es setzte einen Schlag mit dem Saufederschaft auf Lothlanns Hinterkopf. "Bist' ein Hund oder ein Mensch!?" Und schon stapfte Randal wieder los und zog die Hundemeute mit sich. "Ja, Herr!" – der Knecht den Hunden hinterher – "Ein Mensch bin ich!".

Und so durchbrachen im Herbst die aufregenden Jagden mit ihrer Dynamik immer wieder den Alltag. Ungefähr einmal im Zehntag pflegte der Graf bei gutem Wetter die Armbrust anzulegen. Lothlanns kindliches Gemüt hatte damit die größte Freude. Er war stets hellauf begeistert, wenn er zusammen mit Randal das Jagdzeug im Wald aufspannen gehen konnte, und ihm gefiel es, wenn die Hunde vor Glück jubelten, und wie sie am Abend belohnt wurden, und wie dann auch die erlegten Schweine in einer Strecke ausgelegt wurden. Und bei den größeren Jagden, bei denen auch die Bauern des Umlandes mithelfen mussten, gab es zum Abschluss stets ein Fest, und man präsentierte die erlegten Hirsche auf einem Wagen in Windberg!

Lothlann lebte sich also auch in Anwesenheit des Grafen recht gut in seine Pflichten ein. Und wer weiß, vielleicht hätte Randal ihn tatsächlich über kurz oder lang nicht nur zu einem richtigen Menschen, sondern sogar zu einem guten Kammerheizer erzogen. Immer stärker identifizierte sich Lothlann mit seiner Rolle, nahm sie für sich als etwas positives an. Er verstand, dass ein Kammerheizerjunge mehr zählte als ein Bauernjunge. Vielleicht hätte Lothlann also in gräflichen Diensten verbleiben können, vielleicht hätte er sogar Kammerdiener werden können, vielleicht hätte er auch genug Auskommen gefunden, um zu heiraten und eine Familie zu gründen. Doch sein Leben sollte schon bald eine ganz andere Wendung nehmen. Eine dunkle Gestalt, die Nacht für Nacht neben dem herrschaftlichen Tor brütete, wollte an seinen Schicksalsfäden ziehen. So, wie die Hunde das Wild zerfleischten, so hatten Enttäuschung, Eifersucht und Neid die Seele dieser Kreatur bis zum Knochen zerfressen. Und nun schmiedete sie selbst Jagdpläne. Sie spannte die Schnüre, die Lappen, das Federwerk. Kein Entrinnen für das Wild. Die Jagdklappern lagen bereit. Das Hetzen konnte beginnen.

Musikalische Untermalung: Die gräfliche Jagd, das finstere Brüten

PS: Ein paar Bilder von Jagdlappen. Interessant auch, dass von der Jagd der Ausdruck "sich nichts durch die Lappen gehen lassen" kommt, ebenso wie beispielsweise das "Zur Strecke bringen".

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Do 7. Aug 2014, 21:40 
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Musikvorschlag 1 oder 2

XII. Der Aufgang der schwarzen Sonne

Es war ein später Abend, etwa fünf Tage nach dem Grafenritt. Die Dunkelheit hatte ihre Frische schon verloren, war bereits schal und verdrießlich. Gorlann, der gräfliche Torhüter, entzündete in seiner engen Kammer eine Kerze. Er setzte sich und schien auf etwas zu warten. Und während er wartete, ging er in den eigenen Gedanken spazieren. Dann verirrte er sich. Er brütete im Kerzenschein. Seine dunklen Augen starrten in das Licht, wollten es ersticken. Das Flämmchen wurde wild hin und her gerissen. Hell, dunkel, hell, dunkel, hell, dunkel. Ein Wetterleuchten, in dessen Zentrum etwas – oder jemand - übermächtige Schatten warf. In Gorlann braute sich etwas zusammen.

Es passierte ihm immer hier draußen, am Land. Es war die Langeweile, die Gorlann Nacht für Nacht beunruhigte. Stille und Einsamkeit trieben ihr böses Spiel mit ihm. Sie machten ihn über das eigene Schicksal sinnieren, sie ließen ihn nachts im Schlosshof rastlos umherwandeln, sie trieben seine Gedanken immer zu auf düstere Wege und in die schwärzesten Sackgassen. Gorlann betrachtete sich selbst im Geiste. Er prüfte und begutachtete sich von allen Seiten. Bloß: Er konnte keinen Makel entdecken. Er sah sich. Hell, dunkel, hell, dunkel, hell, dunkel. Das Licht ließ ihn nicht klar sehen. Er ging näher. Etwas musste sich doch finden lassen. Er ging rund herum. Wo hatten sich seine Fehler versteckt? Nichts war zu finden. Es machte ihn rasend. Wo lagen die Ursachen seines Schicksals? Er verzweifelte, sank neben sich selbst zu Boden. Wie immer blieb die Suche vergebens.

Da stand er vor sich, ohne Makel, ohne Hoffnung, und ohne Antwort. Der Sohn eines einfachen Tagelöhners aus Eschenschlag. Zehn Jahre im Kriegsdienst, unter dem Traubensteiner gegen Archenbrück und in der Sembischen Armada gegen die halbe Welt. Sein großer Mut war vom Grafen mit der Aufnahme in die Leibgarde, die Trabanten, belohnt worden. Doch seit damals machten sich die Götter einen Spaß aus ihm. Die Jahre verstrichen. Sie zogen an ihm vorüber wie Stunden oder Tage. Und kein einziges konnte er fassen und mit schönen Erinnerungen füllen. Wieviele Sommer in Saerloon und wieviele Winter in Traubenstein waren bereits verblasst? Und die Kerze brannte ab. Kein Weib, keine Kinder, kein Glück. Und die Stelle des Hartschierenhauptmanns? Die hatte er nicht bekommen. Stattdessen: Torwärter. Ob es an seinem linken Bein lag, das ihn - von einer Kriegsverletzung verdorben - humpelnd machte? Schätzte der Graf ihn nicht?

War er nicht eine gut situierte Person? Zumindest gewesen? Ein Kriegsheld, eine stattliche Erscheinung für einen Sember. Wirkte er denn nicht auf das zarte Geschlecht? Wer hätte sich eines solchen Mutes rühmen können wie er? Welcher Mann hätte es je mit ihm aufnehmen können? Was hätte sich seine Frau mehr wünschen können? War er nicht ein echter Kerl, ganz anders als die Männchen in der Stadt? Einer, der bereits andere Männer getötet hatte. Einer, der die Stärke hatte, andere Männer zu töten? Einer, der mächtig genug war, Leben zu nehmen? Musste das nicht aufregend und anziehend wirken? Kurz: Er hatte die Stellung gehabt, und das Auftreten und das Aussehen. Seine Kameraden hatten ihn früher stets beneidet, ihm den Spitznamen „Eisenbeißer“ gegeben. Und nun? Er saß als achtunddreißig-jähriger gräflicher Torhüter allein und verlassen, während seine Kameraden ihre Abende bei ihren Familien in Windberg oder Saerloon verbrachten.

Was Gorlann nicht sehen konnte: Er hatte sich in seine Außenseiterrolle und seine selbstgefällige Überlegenheit verliebt. Er war so borniert und stolz, dass er gar nicht bemerkte, wie unfreundlich und hässlich er bisweilen wirken musste. All seine Gedanken erschöpften sich in der Konkurrenz zu anderen. Nie machte er eine humorvolle Bemerkung, seine Heiterkeit war stets eine falsche und fand ihren Ausdruck allein in Schadenfreude. Und wenn er hier oder da schon nicht mit seinem Gehabe punkten konnte, dann versuchte er wenigstens, seine Konkurrenten schlecht zu machen. Gorlanns Verständnis verlor sich, wenn er über ein trauriges Schicksal in einem Saerlooner Schauspiel lachte, während rings um ihn die Zuschauer es voll innerlicher Regung beweinten. Gorlann schien einfach der Sinn oder das Organ für gewisse Emotionen zu fehlen. Er konnte seine Fehler nicht sehen. In diesem Unvermögen ergab er sich oft dem einzigen, das er von der Gesellschaft leiden wollte: dem Wein.

Die Welt hatte verabsäumt, ihn zu schätzen. Die Welt, sie hatte seine Schönheit einfach übersehen. So lag Gorlann neben sich und weinte bitterlich über sein Schicksal. Alles war ihm verwehrt geblieben. Dass die ganze Gesellschaft seine Bewunderung für sich selbst nicht teilte, das frustrierte ihn sein Lebtag lang über alle Maßen. Er wusste nicht, ob er Tymoria einfach nur hassen, oder doch lieber auf Knien anflehen sollte.

An diesem Abend jedenfalls hatte er sich dazu entschlossen, zu flehen und zu betteln. Wie nie zuvor. Er zupfte sich die Cravatte, sein Halstuch, zurecht. Es war sein letztes Angebot an Tymoria. Und er würde so weit gehen wie nie zuvor. Wenn keine Frau seine natürlichen Vorteile sah, sein stattliches Äußeres, seine männliche Aufführung, seinen Mut, und vor allem seine Ablehnung von höfischer Heuchelei, dann musste er sich anpassen und sich die Methoden des Feindes aneignen. Er musste sich zu einem Affen machen. Zu einem Affen, wie Randal einer war.

Da schepperte es auch schon im Schlosshof. Etwas oder jemand riß das Schlosstor an den Angeln. Das Warten war zu Ende. Durch den lauten Flüsterton verriet sich die Bauerswitwe, die an diesem späten Abend Randal einen Besuch abzustatten gedachte, dazu aber erst das Schlosstor zu passieren hatte.

"Gorlann! Na geh' schon!"

"Saer Gorlann! Machens doch auf! Ich bitt' euch!"


Gorlann ließ sich bitten. Es dauerte einige Momente, bis das Quietschen seiner Türe zu vernehmen war. Während er heran humpelte, ließ er bei jedem Schritt den Schlüsselbund geräuschvoll baumeln.

"Hör', hör'! Nacht und Nebel gebärn nichts Guts! Wer da?!" spielte Gorlann mit klangvoller Stimme.

"Sei nicht so, lass' endlich ein!"


Es ratterte und klickte im Schloss, das Tor öffnete sich. Die Witwe schien Gorlanns besondere Aufmachung – die gewaschene, adrette Cravatte, die Löcher in seinem Mantel geflickt – nicht einmal wahrzunehmen. Er war ihr nichts als ein Schatten. Doch damit war es an diesem Abend für ihn nicht getan. Gorlann verstellte der Bauerswitwe den Weg.

"He, he, he. Nicht so eilig!"

Die Witwe, nichts Gutes ahnend, wollte sich vorbeidrängen und den lästigen Torhüter einfach hinter sich lassen.

"Nicht so eilig, sag' ich!"

Gorlann bekam die Witwe zu fassen, hielt sie auf, und begann mit Worten zu ringen. Den charmanten, höfischen Ton hatte er noch nie zu treffen gewusst. Und die Situation war ihm durch den festen Griff an ihr Handgelenk schon entglitten, bevor er die Chance gehabt hatte. Nicht, dass die Witwe seine Absichten nicht ohnehin schon geahnt hätte. Nach einem peinlichen Moment presste Gorlann schließlich heraus:

"D'weißt wohl,… Bei mir ließ's sich gut leben. Ich würd' dich nicht verschmäh'n. Ich hab' vom Ritt fünfzig Raben. Bin kein Bettler."

"Ah... geh?" Aus dem Tonfall war zu schließen, dass die „Umworbene“ nicht sehr beeindruckt war.

"Du glaubst mir's nicht!? Da, schau her!“ Gorlann reichte in seine Manteltasche um es metallisch scheppern zu lassen. „Fünfzig Raben sag' ich! Ich könnt' dir auf der Stelle was geben, wannst...."

Tatsächlich hatte Gorlann anlässlich des Grafenritts eine ansehnliche Summe Geld akquiriert. Schließlich waren alle Notablen der Herrschaft gut beraten, sich der Gunst des Grafen durch einen kleinen Besuch zu versichern. Und da gehörte es freilich zum guten Ton, dem Schlosstorsteher eine kleine Verehrung zu machen. Die Augen der Witwe hatten für Gorlanns Angebot allerdings nichts als Spott und Hohn übrig. Ihr Blick zerstörte Gorlann.

"Was findest du an dem alten, verrückten Narren? Ich geb' dir mehr als was er dir gibt!"

...
Und hier endete sein charmanter Versuch.

"Nimm die Finger weg!"

"Was leidest mich nit?"


"Ein schmieriger gemeiner Kerl bist, ein Torwachter und ein Trinker, mehr nit! Und izt lass mich los!" fuhr ihn die Witwe an. Dann wurde es handgreiflich zwischen den beiden. Er packte ihren Rock, sie zog ihn an den Haaren zurück. Er stieß, sie schepperte gegen das Tor.

"Du Sauhund!"

"Schmieriger Kerl, ha? Und was bist du?“ Er ließ von ihr ab und verlagerte sich auf das Wortgefecht. „Witwe willst' sein?! Dabei bist so frei und feil wie die ersten Fräuleins aus Seglaunt!" Gorlann spuckte seinen Ekel aus. "Eine schöne Witwe ist mir das! Und dein Schoß ist so trocken wie die thay'schen Dünen" Kein Wunder, daß du keine Nachkommen gedeihen kannst' und dich woanders durchfüttern lassen m...! "

In diesem Moment versenkte die Witwe ihren Fuß zwischen Gorlanns Beinen. Der gezielte Tritt zwang Gorlann in den Schlamm, auf die Knie. Mit einem - [i]"Elendiger Hurensohn!"
- sammelte sich die Witwe. Dann eilte sie davon, verfolgt von den Verwünschungen des Torhüters:

"Ich stech‘ dich ab! Und deinen Randal! Den stech‘ ich auch ab! Ich schwörs!"

In diesem Moment geschah es. Ach! Wäre er doch nur ein wenig geistesgegenwärtiger gewesen! Es hätte ein Abend wie jeder andere sein können. Bloß war Lothlann zum falschen Zeitpunkt nach draußen gegangen um sich zu erleichtern und war durch das Scheppern beim Tor zu neugierig geworden. Er hatte über seine Vertiefung ins Spionieren und ins Lauschen ganz vergessen, dass das vermeintliche Theaterstück, dem er gerade beigewohnt hatte, gar kein Theaterstück war. Und weil es keines war, waren Zuschauer nicht vorgesehen. So kam es, wie es kommen musste: die Hauptdarstellerin lief beim Bühnenabgang in den Zuschauer. Und Lothlanns lustiges Bühnenspektakel verwandelte sich augenblicklich in eine dunkle Herbstnacht.

Die Bauerswitwe bog um die Ecke, konnte gerade noch Halt machen, um Lothlann nicht zu touchieren, und gab ein überraschtes "Du! ..?" von sich. Lothlann sah einen kurzen Moment zu ihr auf als wäre sie ein Weltwunder und raste dann, ohne einen Laut von sich zu geben, zurück in die Kammer zu Randal. Doch damit war es nicht vergessen. Es bestanden keine Zweifel:

Gorlann hatte es bemerkt.

Der besiegte Torhüter humpelte mit versteinerter Miene vom Schlachtfeld. Doch er kehrte nicht allein in seine Kammer zurück. Mit ihm war der Hass. Ein unsäglicher Hass, eine schwarze Sonne, die sein Herz verbrannte. Als der Ekel ihm die Luft abzuschnüren drohte, riss sich Gorlann die Cravatte vom Hals. Er hasste die Bauerswitwe! Und vor allem: Er hasste Randal, zu dem sich die Witwe in diesem Moment gesellte. Er kämpfte nun nicht mehr dagegen an. Mit Tymoria hatte er abgerechnet. Nun galt es die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Er würde sich zu wehren wissen. Er würde Randals heile Welt ins Chaos stürzen, ihn quälen und ihn leiden lassen. Und wenngleich ihm der Sinn für Freude und Einfühlung fehlte, hatte Gorlann doch nur zu gut gelernt, die Freude anderer zu durchschauen und zu zerstören. So begab sich Gorlann zu Bette. Er wusste: Das Aufstehen des Kammerheizerlehrlings erfolgte stets vor der Dämmerung.

Gorlann bließ die Kerze aus.

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Zuletzt geändert von Lothlann am Fr 8. Aug 2014, 18:34, insgesamt 1-mal geändert.

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Fr 8. Aug 2014, 11:54 
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Falls hier noch jemand mitlesen sollte, würde mich interessieren:

1) Soll es eher schnell nach Saerloon gehen, oder kann sich das Geschehen ruhig noch ein Weilchen auf Schloss Traubenstein abspielen?

2) Stört die altertümliche Sprache und der Dialekt in den direkten Reden? Ich tu mir sehr schwer, die Charaktere modernes Hochdeutsch sprechen zu lassen. Das passt hinten und vorne nicht. Sie sind in einer "barocken" Welt, denken anders und müssen daher auch ganz anders sprechen. Stören die direkten Reden ganz allgemein? Ich bin ja eigentlich ein Fan von wenig direkter Sprache, aber hier bin ich nicht drum herum gekommen.

3) Gefällt etwas, misfällt etwas?

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Sa 9. Aug 2014, 20:52 
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Vielen Dank and die treue Seele, dir mir die PM geschickt hat. Es motiviert doch, zu wissen, dass jemand liest. Zwar würde ich das vermutlich auch schreiben, wenn niemand es liest, aber so ist es doch befriedigender. :)

XIII. Zwei Köpfe, ein Gedanke

Das Aufstehen des Kammerheizerlehrlings erfolgte stets vor der Dämmerung. Nach einem kurzen, von Ängsten geplagten Schlaf verließ Lothlann sein Strohlager. Randal schnarchte tief und fest beim Tisch, hatte er doch nach dem lustigen Abend mit der Bauerswitwe einiges aufzuholen. Lothlann ging nach draußen. Die Nacht – sie war von einem kühlen Nebel erfüllt. Man atmete Nebel ein, man atmete Nebel aus. Jeder Blick verlor sich nach zehn bis zwanzig Schritten, und jedes Geräusch erstickte in der Wand aus Feuchtigkeit. Es war heute nicht einmal das sanfte Blätterrauschen der Jagdwälder zu vernehmen.

Lothlann schlüpfte in seine Schuhe und schleppte sich zum Holzgewölbe. Dort fiel er vor dem Feuer Kossios auf die Knie, öffnete dessen Schrein und zog einen Opferzettel. Heute wurde dem Feuergott symbolisch eine junge Liebe geopfert. Sie ging vor Lothlanns Augen in Rauch auf, zersprengte in einem Funkengestöber, das vor dem schwarzen Nachthimmel verglühte. Ein Schauspiel für müde Augen. Dann streckte Lothlann wie jeden Morgen noch einige Momente seine Finger der Flamme entgegen. Der Feuergott würde es ihm verzeihen.

Endlich erhob Lothlann sich und wollte mit dem Beladen beginnen. Er zog sich die Handschuhe an, stellte die Kiepe zurecht und … die Kiepe. Sie war nicht da. Lothlann stand für einige Augenblicke überlistet im Dunkeln. Dann begann er zu suchen. Links vom Holzstapel? Auf dem Holzstapel? Rechts vom Holzstapel? Vielleicht überhaupt hinter der Mauer? Auf dem Dach des Gewölbes? Vielleicht lag sie aber auch woanders im Hof herum? Hatte sie jemand unachtsam an eine andere Stelle gestellt? War sie jemandem im Weg gewesen? Hatte sie jemand gebraucht? Bei den Rechen und Besen? Nichts. Lothlann kreuzte den Gesindehof von links nach rechts, diagonal, von rechts nach links, quer, und wieder zurück. Mit jedem leeren Versteck stieg die Unruhe in ihm. Um die Ecke beim Stall standen auch oft Geräte. Nichts. Es gab viele Möglichkeiten, warum die Kiepe nicht dort war, wo sie sein sollte. Vor einer Möglichkeit gräute es Lothlann aber ganz besonders. Vielleicht aber in der Stallung? Die Holzschuhe schlürften los.

Lothlann trat langsam in den Stall, um die Pferde zu keinem lauten Aufruhr zu veranlassen. Aus dem Dunkeln glitzerten ihn schwarze Augenpaare an. Er hörte das Stroh, er hörte das unheimliche Schaben, das Rauschen. Pferdeleiber aneinander, Pferde rieben an den Planken, atmeten aus ihren gigantischen Lungen. Hätte er nicht etwas wichtigeres im Sinn gehabt, er hätte sich schrecklich gefurchten. So aber suchte Lothlann an der Wand entlang. Zwar hatte er kaum Licht, aber das meiste war ihm vertraut. Er konnte es an den Umrissen erkennen. Zaumzeug, Heu- und Mistgabeln, die Schaufeln. Was dort glänzte: Scheren, Messer, die Sense. Dort die Räder, und hier drüben die Prunksattel der Herrschaft. So vieles war im Stall versammelt, aber seine Kiepe war nicht darunter. Ihm wurde bewusst, dass er heute ohne den Tragkorb auskommen müssen würde. Er wusste, dass er sich nicht traute, seinen Meister zu wecken. Nicht wegen einer solchen Lapalie. Er würde nach einem Ersatz suchen, nach irgendetwas, das sich zum Holztragen eignete. Irgendetwas musste sich doch finden lassen.

Doch gerade, als Lothlann den Stall nach Brauchbarem zu durchstöbern begann, da geschah es mit ihm. Er wusste nicht, wie und warum. Womöglich entzog es sich auch zur Gänze seinem Bewusstsein. Vielleicht merkte er es also nicht einmal. Aber: Er begann leise vor sich hin zu summen. Eine Melodie? Ein Rhythmus? In seiner ungenehmen Lage würde er doch nicht summen? Aber er tat es. Kam es aus seinem Mund? Oder kam es aus seinem Kopf? Wobei: Was aus dem Mund kommt, das muss zuerst im Gedanken sein. Was im Gedanken ist, das spricht zu uns im Ohr. Was im Ohr ist, das spricht der Mund. Der Gedanke ist im Ohr ist im Mund ist im Gedanken ist im Ohr. Es ließ Lothlann nicht gehen. Das Ohr ist im Ohr, der Mund ist im Mund, und der Kopf ist im Kopf. Ja. Der Kopf ist im Kopf! Lothlann hörte eine zweite Stimme. Es gab ihn doppelt. Der Kopf ist im Kopf. Der Gedanke im Gedanken! Nur mehr Umrisse. Kopf ist Kopf! Gedanke ist Gedanke! Ihm wurde schwarz vor den Augen. Kurzschluss. Lothlann verlor sich. Er war weg.

Er wollte sich hinlegen und schlafen.

Ein Musikvorschlag, der zugegebenermaßen noch experimenteller ist als sonst Aber alte griechische und römische "Musik" kann einem wirklich das fürchten lehren und passt m.E. gut zu einer Welt, die von Magie und Göttern erfüllt ist. Wartet erst, bis wir die großen Tempel in Saerloon besuchen! :D

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 Betreff des Beitrags: Re: [WIP Chargeschichte] Lothlann
BeitragVerfasst: Di 19. Aug 2014, 21:48 
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XIV. Ein Bad im Strahlenkranz?

Randal hatte Lothlann mit der Linken am Kragen geschnappt und schüttelte ihn wild durch. Mit dem Handrücken der Rechten setzte es einen festen Streich ins Gesicht.

„Du dummer … Nichtsnutz, müßiger! Einfältiger Bauerntrottel!“

Einige Pferde stiegen und schnaubten. Lothlann, überrumpelt, hob seine Hände zur Abwehr. Die Sonne war bereits im Aufgehen begriffen und er lag ausgestreckt im Stall, im Stroh. Aber das wusste Randal im Handumdrehen zu ändern. Er packte Lothlann, der Randals Hände nicht zu ergreifen wagte, an den Haaren und zog ihn auf die Beine.

„Wieso strafen mich die Götter mit so einem einfältigen Mensch! Was hast du nicht verstanden, he?!“ herrschte Randal ihn an, während er seine Hand über den Hinterkopf seines Lehrlings zog, um diesen in eine angemessene Haltung zu zwingen. Lothlann zog den Kopf ein und machte einen Buckel.

„Hast gedacht, du schläfst hier, seelig in den Armen der Mondmaid, dieweiln die Herrschaft friert und es kein Holz für die Kuchl nit gibt!?“ Der Meister packte ihn wieder beim Kragen und zog ihn mit sich. Jetzt erst bemerkte Lothlann die alamierte Gretie, die ihm mit Blicken ihre Sorge zu verstehen gab und den beiden aufgeregt hinterher trippelte.

„Herr, nein, Herr! Ich…! Herr, der Tragkorb, Herr, er war…!“

Während Lothlann sich vor lauter Herren überschlug, ließ Randal ihn in den Hof stolpern. Und da sah er sie stehen. Die Kiepe. Beim Holzgewölbe. Ja, genau. Dort, wo sie immer stand. Randal ließ seinen pflichtvergessenen Lehrling einige Momente vor dem Holzgewölbe stehen, als sollte er sich das corpus delicti gut einprägen und vor ihm bereuen. Lothlann, endlich vom Handrücken des Meisters in Ruhe gelassen, wusste sich mit der Situation nichts recht anzufangen, sah verunsichert zwischen Holz und Meister hin und her. Jedenfalls gab er in Anbetracht der Beweislage auf, Randal die Wahrheit zu erzählen. Nicht, dass die Wahrheit irgendeinen Sinn ergeben hätte. Und eine andere Version fiel ihm auch nicht ein. Lothlann spürte, wie die besondere Stellung, die er bei Randal durch Schmerz und rollenspielerisches Geschick erworben hatte, ihm in diesen Momenten wie Sand unter den Fingern zerrann. Was er Randal fragen wollte, das war bloß eine neblige Wolke in seinem Kopf, die sich nicht formulieren ließ. Meister, habt ihr euch nicht wenigstens an mich gewöhnt? Könnten wir nicht zusammen halten? Traut ihr mir so etwas denn zu? Über seine Lippen kam lediglich ein kurzatmiges „Meister!...“.

„Kein Wort! Sag‘ ich! Du hältst dein nichtsnutziges, gieriges Maul und spurst!“

Und so schufteten und schwitzten die beiden wie noch nie zuvor, Heizer und Heizerknecht, als wäre ihnen Tyrannos persönlich auf den Fersen gewesen. Sie hatten viel aufzuholen. Zumindest eine Stunde lagen sie im Hintertreffen. Eine unmögliche Aufgabe, obwohl selbst die gute Gretia ihnen mit dem Küchenholz half so gut sie konnte. Sie hatte als erste bemerkt, dass in der Küche das Feuerholz ausgeblieben war, worauf sie sogleich zum schlafenden Randal gelaufen war. Den pflichtvergessenen Knecht hatten sie dann schnell gefunden. Nun ließen sie die Holzscheite nur so fliegen, und all der Ärger und die Angst vor den Folgen schienen ungeahnte Kräfte in Randal zu wecken. Mit der vollbeladenen Kiepe schritt er schnell hinweg, Lothlann, der so viele Scheite trug, wie er mit den Armen zu umfassen vermochte, hinterher. Und in Lothlann keimte der Verdacht auf, dass sein Rollenspiel ihm in dieser Situation zum Verhängnis geworden war. Vielleicht hätte er Randal hin und wieder zeigen sollen, dass er etwas mehr verstand als er ihn glauben machte. Vielleicht hätte Randal dann nicht angenommen, dass sein Knecht einfältig und dumm genug war um seinen Dienst zu verschlafen. Lothlanns Unbehagen mit der Situation und die Angst vor Randal stiegen ihm in die Augen und flossen ihm aus der Nase, während Randal beim Tragen seine Rückenschmerzen mit eiserner Grazie cachierte. Der Meister, er tut alles perfekt.

Aber heute zu spät. Randal heizte die Herrschaftsöfen mit einiger Verspätung an. Verspätung genug, dass es im Schloss auffiel. Das Sandkorn im Getriebe des Traubensteinischen Alltags war nicht unbemerkt geblieben. Und so bewahrheiteten sich die Befürchtungen Randals: der Burggraf erschien und teilte Kammerheizer samt Knecht mit, dass der Graf sie erwartete.

Nur kurze Zeit später standen sie da, aufgereiht und bloß, der Kammerheizer und sein Knecht, in der zweiten Antecamera, mit ihrer einzigen Wahrheit konfrontiert. Zwei Umrisse. Das Licht fiel durch die großen Schlossfenster und umflutete von hinten das Paar von Traubenstein. Graf und Gräfin, sie waren zwei dunkle Silhouetten, von Gloriolen umstrahlt. Lothlann erkannte die Löwenmähne des Grafen, ahnte dessen Gesichtszüge, und diejenigen der Gräfin. Das runde Gesicht mit den weisen, etwas verspielt funkelnden Augen. Bevor Lothlanns Augen sich gewöhnten und Graf und Gräfin deutlicher für ihn wurden, zwang er seinen Blick zu Boden.

Der Graf sprach wie von einer anderen Welt. Lothlann hörte kaum, was er sprach. Nur, wie er sprach.

„ … ist versichert, dass auch wir wissen, dass er stets seinen Dienst zu unserer vollsten Zufriedenheit mit Eyffer, Fleiß und Beständigkeit verrichtet …“

Seine Stimme, sie war ruhig und kühl. Sie ruhte fest in sich. Jedes Wort fügte sich perfekt gewählt an das nächste. Frei von allen Zweifeln, frei von Schwächen, frei von Geheimnissen. Eine Symphonie. Die Stimme des Grafen, sie schien Lothlann direkt ins Herz zu sprechen.

„ … oder er Difficultäten hat, so soll ers uns nur sagen und nit schweigen. Wir werden es verstehen …“

Zu Lothlanns Verdruss endete der Graf. Randal gab sein bestes, um ihn in seiner Antwort zu imitieren. Doch niemals kam die Stimme seines zwiespältigen, innerlich zerrissenen Meisters an die des Grafen heran:

„Eure Excellenz, Herr, ich bitt‘ Eure Excellenz allerunterthänigst um Verzeihung für die missliche Turbulatio. Weder hab‘ ich Difficultäten, noch bin ich unzufrieden in meinem Dienst für Eure allergnädigste Excellenz. Es ist, … es ist nichts als ein kleines Malheur. Wie der kleinste Stein, so an Land nichts vermag, ins Wasser große Wellen schlagen kann, so hat denn auch mein junger Gehilfe heute verschlafen, anbei das Holtz zu bereiten und mich zu wecken verabsäumet.“
Lothlann konnte in diesem Moment spüren, wie sich die Blicke der Herrschaft auf ihn legten. Er trug sehr schwer daran. Und er blieb bei seiner bewährten Taktik, starrte weiterhin fest auf den Boden, und verkrampfte als hinge sein Leben davon ab. Und als ihm dann noch die schreckliche Idee kam, er müsste sich womöglich aktiv an der Audienz beteiligten und sich vor dem Paar entschuldigen, war es völlig um ihn geschehen. Nicht, weil er es nicht gewollt hätte. Doch hatte er weder im Gedächtnis behalten, wie die Herrschaften zu titulieren waren, noch hätte er passende Worte parat gehabt. In den seltenen Fällen, in denen am Hof seines Herrn Vaters Schuld verhandelt worden war, war es stets Barthelme gewesen, der andere entschuldigt hatte. Mit seiner Hand, nicht mit Worten.

„Aber ich bitt‘ alleruntertänigst, es ihm nit übel und streng zu nehmen, ist er doch noch neu, ein halbes Knäblin und ganz unerfahren. Er muss erst gewöhnt werden. Er kennt nichts andres nit als das Baurenleben und ihm ist die Streng‘ und Pünktlichkeit, welche der Dienst an Eurer Excellenz erforderet, noch recht frembd.“

Hätte Lothlann es gewagt, einen Blick zur Gräfin zu riskieren, so wäre ihm nicht verborgen geblieben, dass sie ihn schon länger mit Wohlwollen ins Auge gefasst hatte. Nun aber schien die Gräfin ihre Sympathien für den kleinen Delinquenten nicht mehr halten zu können und platze mit einer Stimme heraus, die zwar voller tiefer Süße und wohliger, mütterlicher Wärme war, und in der sich Lothlann sofort zu Hause fühlte, die jedoch den Seglaunter Dialekt sprach, der sehr eigen war:

„Na, des derfst laut sog’n, a holbes Knäblin! Mied wor er! Na, er ist ja noa kloa! G‘wiss mueß er no so viel wochßen und braucht seine ganze kraft dafier auf! Fier‘s Wachßen!“ [Na, das darfst du laut sagen, ein halbes Knäblein! Müd war er! Na, er ist ja noch klein! Gewiss muss er noch viel wachsen und bringt seine ganze Kraft dafür auf, fürs Wachsen!]

Eine gewisse Erleichterung war Lothlann nur an dem Arbeiten seiner Mundwinkel abzulesen. Ansonsten ließ er sich nicht aus seiner krampfhaften Ruhe bringen und starrte weiter unbeirrt ein Loch in den Boden. Es musste schon riesig sein. Randal, ob aus Sorge, dass sein Gehilfe für einfältig gehalten werden könnte, oder auf das Zeichen der Gräfin hin, gab seinem Helfer einen kleinen Stoß zum eigenen Besten. Endlich hob Lothlann seinen Blick in den hellen Gloriolenschein. Und die Gräfin belohnte ihn dafür und besonnte ihn voller Entzückung. Der Graf verfolgte die Sache indes beinahe unbeteiligt mit.

„Na schau! A liabs G‘sichterl hot er, mit so liabe Augerl! Und so a treuherzigs G'schau! Owa kane schuech hat er auf seine fieß nit?“ [Na also, schau! Ein liebes Gesichtlein hat er, mit so lieben Äuglein! Und so einen treuherzigen Blick! Aber er hat ja keine Schuhe an?]

Die Anklage galt ohne Zweifel Randal.

„Eure Excellenz, Allergnädigste Herrin. Seine Schuhe seind ganz hilzern und einfach, denen gemeinen Bauren-Schuech gleich. Sie seind grob und von Stall und Wetter ganz dreckig und ruinireten derhalben die Boden und Fliesen Eurer Excellenz, also hat er sie draußen lassen. Aber sein Eure Excellenz versichert dass seine füeß …“

Die Gräfin verzog eine Miene und unterbrach Randal, indem sie einmal erbost (jedoch nicht mit vollem Ernst) mit dem Fächer auf den Tisch knallte.

„Nix do! Du kafst ihm g‘scheite Schuech, Immergluot! Wie soll er denn vom Bauren zum Hofdiener werden, wann du ihn in solchane Holzklötz herumlofa losst? Da wundert’s mi nit, dass er so melancholisch ovvero triste drein schaut!“ [Nichts da! Du kaufst ihm anständige Schuhe, Immerglut! Wie soll er denn vom Bauern zum Hofdiener werden, wenn du ihn in solchen Holzklötzen herum laufen lässt? Da wundert es mich nicht, dass er so melancholisch und traurig drein schaut!“]

Randal schluckte und verbeugte sich wie ein Blatt, das dem Wind nachgibt.

„Tuast ihn halt nit so einsponna, Immerglut!“ setzte sie scharf zu Randal hinterher und entließ ihn mit einem Wink ihres Fächers. Randal vollführte eine weitere, tiefe Verbeugung, die seinen Schuh laut am Parkett scharren ließ. Lothlann imitierte ihn so gut er konnte. Und während Randal die unglaublich hohe Tür der zweiten Antecamera – freilich mit Gesicht zum Grafenpaar und im Verbund mit einem weiteren Kratzfuß – schloss, bangte Lothlann einmal mehr. Wie er es hasste, für die Schuld anderer verantwortlich zu sein …


Bild
Das gütige und weise Antlitz von Gräfin Tessele Alaine von Traubenstein und Niederhain

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