Das Auf und Ab von Amengs emotionaler Verfassung in den letzten Monden hätte man in einer anderen Welt mit einer sich ständig wiederholenden Achterbahn verglichen. Jedoch hier, in dieser Welt, da gab es keine Achterbahnen, dafür jedoch finstere, offen auftretende Dämonen und finstere Gottheiten, die den meisten Lebewesen zu deren Glück allerhöchstens in ärgsten Alb- oder Fieberträumen jemals begegnen würden. Für Ameng war dieser Albtraum zur bitteren Realität geworden. Sie merkte dies. Jeden Tag am Morgen nach der vierstündigen Reverie. Wenn ihr Blick hoffend zu ihrer linken Hand wanderte, sich für den Bruchteil eines Herzschlages dem Luxus einer vergeblichen Hoffnung hingebend, dass es vielleicht doch nur ein Albtraum war, aus dem sie nun erwacht war. Nur damit dieser flüchtige Hauch eines Hoffnungsschimmer sogleich zerschmettert würde, wie das dünne, brüchige Eis in einer Pfütze zu Winterbeginn, wenn das Rad eines Lastkarrens darüber fährt.
Jeden Morgen war sie in den vergangenen Monden dann aufgestanden, hatte die geschwärzten Adern betrachtet, die sich vom dem verfluchten Armreif aus, der sich nicht mehr ablegen ließ, über ihren Unterarm ausbreiteten. Sie hatte dann zu dem Maßband am Tisch gegriffen und überprüft, ob sie fortgeschritten waren, den Zeitpunkt dokumentiert, mit dem Willen, durch die wissenschaftliche Aufzeichnung ihres Zustandes Distanz davon zu gewinnen. Jedes Mal hatte die Feder nach dem Eintauchen in das Tintenfässchen gezittert und manches Mal, da waren feuchte Tropfen noch während des Schreibens aus ihren goldenen, traurigen Augen hinabgefallen, manches andere Mal, da war es ihr geglückt, die Aufzeichnung noch zu vollenden, in allen Fällen hatte sie sich danach in dekadente Traurigkeit geflüchtet und ihren Tränen freien Lauf gelassen. Ein einigen Tagen eine halbe Stunde, an anderen eine ganze und an besonders starken Tagen war es ihr bereits nach wenigen Minuten geglückt, sich wieder zu beruhigen und zumindest halbwegs eine emotionale Stabilität zurückzugewinnen.
Um sich anschließend von sich selbst angewidert zu fühlen, sich für ihr dekadentes Selbstmitleid zu schämen, was einer Sonnenelfe nun einmal wirklich nicht stand. So benahmen sich Mondelfen oder Menschen, vielleicht auch Zwerge, Gnome oder Hin. Einer Sonnenelfe sollte dies nicht passieren, eine Ar-Tel'Quessir, noch dazu eines des Hauses Corrua'iat, dem sie zwar bereits einige Zeit lang nicht mehr angehören wollte, zu dem und dessen Geisteshaltung sie sich dennoch verpflichtet fühlen musste, bewahrte in jeder Situation die Haltung und die Contenance. Obgleich Ameng in den letzten Monden nicht selten beides verloren hatte. Was in jenen morgendlichen Ritualen dann nicht selten bei der Erinnerung an all diese Momente zu noch mehr Scham, Selbstzweifel und Depressionen geführt hatte. Manches Mal zu weiteren Tränen, welche das Selbstwertgefühl noch weiter gesenkt und zu erneuter Scham geführt hatten.
An besonders schlechten Tagen war sie aus diesem Teufelskreis bis hin zur abendlicher Reverie nicht mehr heraus gekommen. An anderen Tagen hatte sie dann geforscht und sich erneut mit Hoffnung genährt, eine Lösung, eine Rettung finden zu können, nur um am Ende des Tages wieder mit dem Scheitern konfrontiert zu sein. In beiden Fällen hatte anschließend die Reverie gewartet, welche ihr inzwischen nicht mehr viel Erholung, sondern nur neue Albträume gebracht hatte, mal über die Grausamkeit ihres eigenen, bevorstehenden Endes, mal über die verschiedenen, dunklen Alternativen, nur selten über einen positiven Ausgang, bei dem sie ihre Seele nicht verliert und zugleich nicht auf der Seite der Finsternis zu einem eigenem Albtraum für andere würde. Denn wenn das Schicksal schon darüber verfügte, dass ihr Dasein eine Horrorgeschichte sein würde, von welcher man vielleicht in einstigen Legenden sich in dunklen Nächten einander am Lagerfeuer erzählt in dem Versuch, sich gegenseitig zu gruseln... warum dann nicht wenigstens das Monster darin sein?
Heute war es anders. Inzwischen war es anders. Rückblickend betrachtet erkannte Ameng mit gewisser morbider Faszination bei der Analyse ihres psychischen Selbst, was in den vergangenen Monden makabererweise von ihr als das Schlimmste an der Situation empfunden worden war. Nicht zuletzt waren es Jerems Worte gewesen, die sie zu diesem Schluss geführt hatten. "Du hast nur gemerkt, dass dein Blut genau so rot ist, wie das von uns anderen auch." Es war nicht das Wissen um ihren nahenden Tod, nicht das Wissen um die Vernichtung ihrer Seele, nicht die Bedrohung einer erneuten Übernahme ihres Körpers durch Tz'ark'anith, obgleich all diese Dinge einen nicht zu verleugnenden und intensiven Schreckenscharakter beinhielten. Das Schlimmste war die schreckliche und permanente Zerstörung ihres Selbstbildes und ihrer Außenwahrnehmung.
Ein Selbstbild, das in den vergangenen Jahren schon manches Mal Risse erhalten hatte, wenn sie sich mit einer akuten und tatsächlichen Gefahr oder noch Schlimmer, mit Versagen oder gar Hilflosigkeit konfrontiert sah. Ihr Drang, möglichst viel Kontrolle auszuüben, hatte nicht zuletzt der Aufrechterhaltung ihres Selbstbildes gedient. Ja, es hatte häufig Risse erhalten. Risse. Aber eben nur Risse. Risse konnte man kitten. Ein narzisstischer Geist wie der ihre war sogar dazu in der Lage, vergangene Ereignisse zwar nicht zu verdrehen, das ließ wiederum ihr Intellekt nicht zu, aber so lange neu zu bewerten, bis sich eine ihrem Gunsten entsprechende Interpretation fand. Denn die Momente waren in den meisten Fällen nur sehr kurzer Natur, kleine Missgeschicke, manches Mal bestand die Bedrohung vielleicht sogar einige Tage, aber letztendlich waren sie vergänglich genug, um sie hinter sich zu lassen.
Doch dieses Mal war es eine dauerhafte, langfristige Bedrohung, die Niemand außer ihr so intensiv wahrnahm. In Fällen äußerer Bedrohungen für die Stadt oder ihre Gilde oder ihre Freunde konnte sie ihren Narzissmus noch wenigstens dazu nutzen, sich selbst und das eigene Selbstwertgefühl schützen, indem sie den anderen die Angst nahm, Zuversicht und Stärke zeigte, auf dass die anderen zu ihr aufsehen, womit die Außenwahrnehmung, die sie erzeugen wollte, gestärkt wurde. Und damit verlor eine Bedrohung häufig auch schon ihren Schrecken, denn immerhin war das Schlimmste, was passieren konnte, ein heldenhafter Tod, bei dem Barden und künftige Generationen von ihrem Mut und ihrem Auftreten erzählen würden.
Doch wer sollte hier noch singen? Wer bekam es schon mit? Was sich täglich in ihrem Geiste abspielte? Die Worte, die ihr einflüsterten, Böses zu tun. Die ihr einfache Wege vorschlugen, anrieten. Die ihr die möglichen Konsequenzen offenlegten, wenn sie es nicht tat. Niemand sah das! Niemand verstand das. Niemand würde dafür zu ihr aufblicken. Niemand sie dafür bewundern, dass sie sich... fast immer... dagegen entschied. Nein. Die anderen sahen nur, wenn sie schwächer wurde, wenn sie in Verzweiflung oder Wahnsinn hinabglitt und hierfür war stets nur Verachtung zu ernten. Augen, die auf sie hinab sahen. Stimmen, die abfällig über sie flüsterten. Von Personen, die in ihrer Situation schon weitaus schlimmere Dinge getan hätten. Von Personen, die zu ihr aufsehen sollten. Personen, die unter ihr standen. Weit unter ihr. Und nun war sie eine von ihnen. Und selbst sie waren von ihr angewidert. Nein, Ameng würde hier nicht als Heldin sterben. Niemand würde sie für all das bewundern. Und keiner würde Lieder singen. Über ihren Kampf und ihr Geschick, über ihren Mut und ihre Klugheit, über ihre Schönheit und Anmut.
Das Schlimmste war, trotz allem Schrecken der möglichen Nichtexistenz, nicht diese an sich. Schlimmer war es, dass sie nun jeden Tag auf das Neue spürte, fühlte, dass sie besiegbar, unterlegen, hilflos und machtlos war. Und noch Schlimmer wäre die Vorstellung, so in die Geschichte einzugehen, dass man sich so an sie erinnert... oder grauenvoller noch... sie vergisst. Sie, welche die Erlöserin, die Messiah der Welt sein und das Böse vernichten wollte. Zumindest in diesem Punkt unterschied sich Ameng von anderen Narzissten. Ihr Größenwahn und der Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung anderer waren zwar gewaltig, doch ihr Wunsch, die Erlöserin zu sein, entsprang nicht allein diesen Säulen, sondern auch der Säule eines immensen Mitgefühls für alle anderen Lebewesen.
All dies hatte schließlich bei ihrer gemeinsamen Reise in das Unterreich in einer Eskalation gemündet. Es war nicht ihre erste Reise in das Unterreich gewesen, doch sie hatte noch nie den Alltag einer Stadt der Dunkelelfen erlebt. Die Normalität einer Gesellschaft, in der Grausamkeit und Missachtung des Lebens und des Wohlbefindens anderer, insbesondere dann, wenn sie nicht dem gleichen Volk angehörten, zum guten Ton gehörten. Diese Erlebnisse hatten ihr Mitgefühl in Hass umschlagen lassen. Die Konfrontation mit der eigenen Ohnmacht, sowohl was ihre eigene Situation, als auch die Situation derjenigen, die hier leben mussten, betraf, hatte zu einem immensen Wunschgedanken nach Allmacht geführt. Und dies hatte seinen Höhepunkt schließlich an jenem Sklavenmarkt, als sie ihre Cousinen sah, erreicht. Entwürdigt, ihre Haare geöffnet und zur Schau gestellt, gleichsam ihre Haut durch die knappe Bekleidung. Nicht genug, dass sie es gewagt hatten, Sonnenelfen als Sklavinnen anzubieten. Aber mussten es auch noch Mitglieder ihrer eigenen Familie sein? Mitglieder des Hauses Corrua'iat?
Rückblickend betrachtet verstand Ameng ihre Gefühle inzwischen. Warum nicht wirklich alle töten? Und sie von den Göttern aussortieren lassen. Diejenigen unter ihnen, die am Guten festhielten, würden in die Reiche ihrer Götter gelangen, sie wären endlich frei, der restliche Abschaum hingegen würde in den Höllen und im Abyss der angemessenen Strafe überantwortet. Immer noch überlegte Ameng selbst heute, wenn auch mit gewisser Distanz, ob die Bleiche Nacht aus jenem Spiegel, wenn sie sie tatsächlich befreit hätte, Ameng hätte retten können. Auf der anderen Seite war sie eine Dämonin. Sie hätte alles gesagt, was Ameng hören wollte, damit Ameng sie in diese Welt holt. Allerdings war das ohnehin hinfällig geworden, nachdem ihre Reisegefährten sich gegen sie wandten. Und sie... besiegten. Ja, das war definitiv der absolute Tiefpunkt. Als sie von ihnen besiegt wurde. Wenn wenigstens eine Sonnenelfe mit an Amengs Niederlage beteiligt gewesen wäre! Obgleich sie sich zumindest damit trösten konnte, dass die Gefährten ihr zahlenmäßig überlegen waren und eine Drow sie angeführt hatte.
Aber all das war letztendlich wichtig und notwendig gewesen, das verstand Ameng inzwischen, heute. Es brachte nichts, dem zerbrochenen Selbstbild und der zerschmetterten Außenwahrnehmung nachzutrauern. Es war nicht sinnvoll, jeden Tag aufs Neue in Selbstmitleid zu versinken um sich anschließend selbst dafür zu verachten. Es half ihr nicht, in ständiger Angst vor dem eigenem Tod und der Vernichtung ihrer Seele zu existieren. Sie musste es so wie früher angehen, wie eine Wissenschaftlerin. Jedoch zugleich mit den Erkenntnissen von heute, mit größerer Demut und dem Verständnis eigener Fehler und eigener Verletzbarkeit. Ihr Stolz, ihr Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung, waren in den Hintergrund geruckt. Vorhanden, aber nicht mehr an primärer Stelle. Ihre Angst und ihre Verzweiflung hatte sie unter Kontrolle gebracht. Präsent, aber nicht mehr ihr Dasein dominierend.
Das primäre Ziel lautete nun: Überleben. Egal, wie. Doch nicht zu jedem Preis. Denn was sie noch nicht abgelegt hatte, war eine ihrer wenigen positiven Eigenschaften: Ihr immenses Mitgefühl. Noch nicht. Es beinhält fast eine gewisse Ironie, dass Tz'ark'anith sie im Grunde zu einer besseren Person gemacht hatte. Doch könnte sich auch dies noch in das Gegenteil wenden. Nämlich dann, wenn Ameng auch ihr Mitgefühl ablegen würde, um zu überleben. Letztendlich war es ein Tanz auf des Messers Schneide. Und Ameng wusste selbst noch nicht, wohin ihr Weg sie am Ende führen würde. Nachdem sie ihre morgendlichen Schutzzauber angelegt hatte, ging sie in das Labor um weiter zu arbeiten. Sie hatte noch sehr viel zu tun. Ihr Blick wanderte zu den Ratten, die sich instinktiv vor ihr furchtsam zurückzogen, die spüren konnten, was durch Amengs Blut floss und mit ihrer Seele verbunden war. Ja. Sehr viel zu tun.
_________________ ~"This ist my battle. This is my battleship."~
"Jene, die sich Abenteurer nennen, sind grausame Individuen aus einer anderen Welt. Sie sind auf der ständigen Suche nach neuen Opfern für ihre dunkle Gottheit Exp, die sie dafür mit immer stärkeren Fähigkeiten und Kräften ausstattet."
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