Jessica trat langsam und nur Schritt für Schritt voran. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, das heißt, Ihr Körper tat es. Sie selbst registrierte die Bewegung nur am Rande. Das Rauschen war immer noch laut in ihren Ohren zu vernehmen und die Umgebung wirkte fremdartig für die, die gesamte Situation war unwirklich und grotesk. Und grauenvoll. Vor wenigen Momenten noch hatte der Fürst, Sedrik Silbertal, der Vater ihres unehelichen Sohnes, mit den versammelten Gästen in der Großen Halle gesprochen. Eine Lösung soll es gegeben haben, eine Einigung mit den Banken Tiefwassers und den übrigen Gläubigern des Fürstentums. Ein Hoffnungsschimmer, den alle so dringen gebraucht hatten. Und nun? Staub. Alles, was bleibt, ist Staub.
Elona hatte vor ihr wieder zu sich gefunden und die Wahrheit registriert, verstanden. Und jene Elona, jene so große und von so vielen so bewunderte Elona, ihre Rivalin, kniete auf dem Boden und weinte, wie ein kleines Mädchen. Ein Teil von Jessica, ein innerer, ungeliebter und bösartiger Teil, hätte sich über diesen Anblick ihrer Rivalin gefreut, unter anderen Umständen. Aber die Situation erlaubte kein Triumphgefühl, denn das blanke Entsetzen dominierte sowohl jede gute als auch jede schlechte Seite in der Helmitin, die Luft schmeckte nach Staub, Blut und Tod, Jessica konnte kaum gegen den Brechreiz ankämpfen.
Erst langsam begann sie es auch bewusst wahrzunehmen, zu registrieren, zu verstehen, als die Schocklähmung nachließ. In diesem Raum hatte Fürst Sedrik Silbertal, der Vater ihres Kindes, ein grausames Ende gefunden. Gemeinsam mit vier anderen Personen und zwei Soldaten, die vor der Türe des Raumes Wache gehalten und für den oder die Täter nicht mehr als unbedeutende Kollateralschäden waren. Zwei weitere Leben, weggeworfen wie Abfall, zerquetscht wie Fliegen, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Es hatte einst eine Zeit gegeben, da hatte Jessica ähnlich kaltblütig gedacht und gehandelt, hatte gar Leben beendet, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was das bedeutet. Erst nach der Schwangerschaft und der Geburt ihres Kindes, des unehelichen Sohnes von Sedrik Silbertal, war ihr der Wert des Lebens bewusst geworden. Ein Menschenleben, dass so lange und so intensiv verbunden mit der Mutter, neun Monde lang, in deren Leib heranwächst. Es braucht so lange Zeit, die mit so vielen schönen Momenten, aber auch so vielen Qualen, Ängsten und Sorgen verbunden ist, neun Monde, bis ein Kind geboren ist.
In der Wahrnehmung der meisten Menschen, vornehmlich der männlichen Vertreter jener Gattung, da beginnt das Leben eines Menschen erst mit der Geburt. Aber nicht für die Mutter, niemals für eine Mutter. Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, vermag dieses unbeschreibliche Gefühl zu verstehen, wie es ist, wenn ein Menschenleben Stück für Stück in einem Heranwächst. Und was für eine Erleichterung es ist, das geborene Kind, mit dem man fast ein Jahr lang auf eine Weise verbunden war, die intensiver nicht möglich ist, gesund und wach in den Armen zu halten, während es schreit und der mit eigenen Körpersäften bedeckte Körper ob der Kälte bebt, in die das Kind hinausgepresst wurde, während die Mutter den Körper zu wärmen versucht. Ab diesem Moment hatte Jessica zum ersten Mal den Wert eines Menschenlebens tatsächlich verstanden. Ab jenem einen Moment.
Sie öffnete die Augen. Der Raum war vollkommen zerstört, Elonas Schluchzen war alles, was Jessica hören konnte, neben dem Rauschen. Eine Art magische Bombe war hier detoniert, hier in diesem Raum. Sie hatte sieben Leben einfach ausgelöscht, auf grausamste Weise. Man konnte die Toten nicht ein letztes Mal ansehen, man konnte sie nicht einmal beerdigen, den die Detonation hat ihre Leiber vollständig zerfetzt. Sie hat die Menschen einfach zerrissen. Komplette menschliche Körper, von denen jeder neun Monde lang im Körper einer liebenden Mutter gereift ist, die danach Jahre, Jahrzehnte lang aufgewachsen sind. Die gelernt haben, zu sprechen, zu gehen, zu verstehen, zu lesen, zu schreiben, ein Handwerk zu erlernen, eine Waffe zu halten, Kunstwerke zu erschaffen oder Fremdsprachen zu lernen. Einfach so ausgelöscht und was bleibt ist nur Staub und Blut, verteilt im ganzen Raum.
Der Fürst war tot, Sedrik Silbertal war tot. Der Vater ihres Kindes war tot. Alferink, der Hohepriester Tyrs, war tot. Kämmerer Barlen Lenbach war tot. Die beiden Wachen, die den Fürsten begleitet haben, waren tot. Und die beiden Wachen, die einfach nur vor der Tür standen, waren tot. Im gesamten Palast waren Trommelfelle geplatzt und viele Menschen würden bleibende Hörschäden davon tragen. Auch in Jessicas Ohren ließ das Rauschen nicht nach. Jessica hörte ihre eigene Stimme, die nur zitternd immer wieder das Wort "Nein" aussprach, als könnte es vielleicht die ganze Situation ungeschehen machen, wenn sie sie nur einfach oft genug verneinte. Aber das ging nicht, das geht nie.
Alles was bleibt, ist Staub.
_________________ ~"This ist my battle. This is my battleship."~
"Jene, die sich Abenteurer nennen, sind grausame Individuen aus einer anderen Welt. Sie sind auf der ständigen Suche nach neuen Opfern für ihre dunkle Gottheit Exp, die sie dafür mit immer stärkeren Fähigkeiten und Kräften ausstattet."
~Shadow is a man who never loses his virginity - because he never loses.~
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