Im Illmater-Kloster in Saerloon findet sich unter vielen Handschriften auch die folgende. Es handelt sich um eine Schrift, die sich explizit gegen eine Strömung von Ilmatari wendet, die einen sehr aggressiven Standpunkt vertreten. Eine Zusammenkunft aller Sembischen Äbte und Gelehrten hat die Strömung vorläufig (d.h. bis Illmater selbst seinen Willen offenbart) als fehlerhaft eingestuft. Zur richtigen Stimmung passen die
Irrlichter vom heiligen Vinicio.
Zitat:
Tractatus de exsecutoribus immo servis miseriae, vulgo tyrannos dicitur, quomodo tractandum immo vero curandum sunt // Traktat über die Vollstrecker oder aber Sklaven des Leides, die gewöhnlich Tyrannen genannt werden, und wie sie zu behandeln oder vielmehr zu heilen sind
Unser guter weinender Vater verkörpert die Linderung des unveränderlich ewigen Leides, welches aus dem beständigen Reiben der Kräfte, des Guten und des Bösen erwächst, welche erstere Kraft bloß zufällig oder zur Abwehr des Bösen Leid hervorbringt, die zweitere Kraft, nämlich das Böse dem Leid aber gleichgültig, oder, in der malignitas maxima, der die Seelenfresser und Auswürflinge huldigen, mit Berechnung. So erhellt, dass unser Vater vieles aus dem Guten schöpft, nichts aber aus dem Bösen. Nun ist es unbezweifelt, dass unser gebrochene Vater ein Streiter des Guten ist. Es gibt aber einige, die da sagen, es wäre seine Lehre, die Leidbringer darnieder zu werfen, die Tyrannen zu entthronen und in gerechtem Zorn zu vernichten. Die Quelle des Leides zu zerstören, sagen sie, nicht bloß das Leid zu lindern, sei die Lehre.
Was man aber von diesem dummen Irrglauben halten soll, das erschließt sich ganz von selbst aus dem Nachfolgenden, wenn man die Sache nur recht zu durchdenken, und die Zeugnisse des weinenden Vaters richtig auszulegen versteht. Punkt für Punkt wird ihr Fehler offenbar.
Sie sagen, sie würden die Quelle des Leides zerstören. Ja aber, was ist denn das Leid? Das Leid, lehrte uns der Vater, ist der Schatten, den das Reiben der Kräfte auf die Seelen wirft. Die Seelen sind Werkzeuge und Gefäße der Kräfte. Wir wissen, dass es zwei Formen oder Arten des Leides gibt. Das eine ist das körperliche, d.h. das flüchtige Leid, die miseria profuga, wie es die Lehre sagt, sei es da der Hunger, der körperliche Schmerz, der Durst, die Kälte, die Hitze oder andere Empfindungen des vergänglichen Körpers. Diese Form des Leides ist weit von der eigentlichen Ursache des Leides, der causa miseriae. Ja so weit, dass die Entdeckung und Entflechtung der Quelle oft schwer fällt. Wer könnte etwa mit Sicherheit sagen, welche Partei in einem Krieg im Recht ist, und welche mehr aus guten, welche aus bösen Absichten handelt? Alle Parteien hegen ihre Wünsche, die da Ausdruck des ewigen Kampfes zwischen den Kräften sind. Die Wege, auf denen sich die miseria profuga manifestiert, sind wild verschlungen, und oft akkumulieren sich die Wünsche unzähliger Seelen und Geister zu diesem undurchdringlichen Wald sive Labyrinth des Leides. Und nichts anderes ist unsere Welt. Ein Labyrinth des Leides.
Die andere Form des Leides aber ist das seelische oder Seelenleid, die miseria constans oder miseria animae, wie es in den mille apparentium, atvero duos modos steht. Dieses Leid erwächst nicht aus der Verflechtung der Manifestationen der Wünsche, Seelen und Kräfte, sondern hat seinen Sitz stets in den einzelnen Seelen. Von daher können wir seine Quelle zwar näher bestimment, verstehen allerdings können wir es mit unserem kleinem Verstand kaum, ideo, weil es in der Seele verankert ist und der Mensch außerhalb seiner Seele nicht ist. Das Seelenleid ist direkt mit den Kräften und ihrem Kampf verbunden. Daher erhellt, dass diese zweite Form des Leides die höhere, schwerere, direkter mit der Ursache verbundene und reinere Form des Leides ist.
Wieviele Märtyrer des weinenden Vaters konnten doch durch die heiligen Übungen Bodolios das flüchtige Leid von sich abwerfen, vermochten sich aber in ihrem Seelenschmerz nur flehend an den weinenden Vater zu wenden? Und lehrte uns nicht das Exempel des heiligen Einsiedlers Thadeal, welcher nicht nur über das flüchtige Leid, sondern auch über das Seelenleid erhaben war, dass jener Wunschloser, der sich auch vom Seelenleid zu lösen trachtet, die Fähigkeit zum Guten und das Mitgefühl verliert, und damit nur das Prinzip des weinenden Vaters verkörpert, nicht mehr aber in seinem Auftrage zu handeln vermag und daher nutzlos wird? Wer in der Welt Leid lindern will, der darf seine Seele nicht aus der Welt nehmen und den Kräften entziehen. Sagte nicht also, um Thadeal zu belehren oder zu tadeln, die Verkörperung Illmatari der Lehrer zu ihm: „Du bist bloß einer, aber da draußen sind sie Million“? Denn was gibt den schöneren Duft? Eine perfekte Blüte? Oder Abertausende, die bloß schön sind? Wer das Leid lindern will, der muss es in seinen Nächsten suchen, nicht bloß in sich selbst.
Was nun aber, wenn ein Tyrann getötet wird? Manche sagen, das Leid des Tyrannen im Moment seiner Vernichtung wäre hundertfach aufgewogen durch die Linderung des Leides seiner Opfer. Das ist aber zu kurz gedacht und widerspricht den Prinzipien des weinenden Vaters. Manche sagen auch, dass der Tyrann selbst vom Seelenleid, wie jeder dessen Seele durch die malignitas vergiftet, betroffen ist, und dass also auch er ein Spielball der Kräfte wäre und sein Tod, sein Gang aus dieser Welt, sein Leid lindern würde. Die Mehrung des flüchtigen Leides im Moment der Entleibung sei weniger Wert als die Linderung des seelischen Leides. Aber wahrlich, wer das behauptet, der irrt! Zu dem heiligen Märtyrer Gullobert, als er den Tyrannen Izchander getötet hatte, ward von unserem Vater Illmarari der Erscheinung dem Lehrer nämlich gesprochen: „Dein Handeln war gut aber von schwindender Bedeutung. Leide nicht.“ Was war aber damit gemeint?
Die Quelle des Leides ist, wie uns gelehrt wurde, nicht ihre Manifestation in der Welt, wie dies der Tyrann ist, sondern ihr Kern und Wesen. Nicht der Körper des Tyrannen, ja vielleicht nicht einmal sein Verlangen und sein Streben, sondern selbst deren Quellen, die in der Seele sitzen als Kräfte! So kann es ein jeder unschwer verstehen: Wessen Dach undicht ist, der tut gut daran, nicht bloß Eimer unterzustellen, sondern das Dach zu reparieren. Denn abermals: Die Quelle des Leides ist der Kampf der Kräfte, motiviert durch die Kraft des Bösen. Daher vermag nur jener die Quelle des Leides tatsächlich sehen und bekämpfen, der die Kraft des Bösen zu verorten und zu zerstören vermag. Niemand, ja nicht einmal unser weinender Vater selbst vermag dies.
Was also, wenn ein Tyrann zerstört wird? Es ist eine Tat aus gutem Antrieb, wahrlich, doch hat sie geringen Einfluss auf das Böse. Wohl ist gewiss, dass der Körper der Sitz der Seele ist, und er also auch von den Kräften, die auf die Seelen wirken, besessen wird. Wie wir wissen, war der heilige Märtyrer Eflaim so sehr von Güte durchdrungen, dass seinen heiligen Gebeinen selbst nach seinem Tode das Gute anhaftet und sie bis auf den heutigen Tag ihre Wunder durch den Gebrochenen vollbringen. Aber für gewöhnlich entschwinden beim Zerbrechen der körperlichen Hülle auch die Kräfte gleichsam mit der Seele als sedes vium und nichts von ihnen bleibt im Körper zurück. So sieht ein jeder, dass der Tod eines Tyrannen die Kräfte selbst nicht berührt. Die Seele des Tyrannen entflieht mit der Kraft, das heißt: auch mit dem Bösen, welches unverändert bleibt. Und wie wir wissen, sind die Seelen beständig. So ist die Vernichtung des Tyrannen bloß der äußere Anschein, aber die Quelle des Leides versiegt durch sie nicht. Nicht die miseria profuga sondern die miseria constans vel animae gilt es zu lindern. Wer könnte also so anmaßend sein, zu behaupten, er habe einen Teil des Bösen zerstört? Es sind nichts als Manifestationen, Gefäße, Schatten, denen wir begegnen und die wir bekämpfen. Daher ward also gesagt: „Dein Handeln war gut aber von schwindender Bedeutung. Leide nicht.“ Eitelkeit und Kurzsichtigkeit ist es, zu denken, dass mit dem Tyrannen das Böse vernichtet sei, wenn es doch tatsächlich nur verschoben wird um sich an anderer Stelle zu manifestieren.
Daher entzieht sich der Illmatari, der den Tyrannen vernichtet, seiner Verantwortung. Er kämpft eitel mit den Schatten, anstatt dem Gebrochenen wahrlich und beständig zu dienen. Sprach nicht Illmater die Erscheinung der Lehrer zu Flaeinann, als dieser wankte, und aus der schrecklich heimgesuchten Stadt Orgulin fliehen wollte: „Fliehe nicht vor dem Leid. Lindere es. Leide nicht“? Er sagte nicht: kämpfe gegen die Quelle des Leides! So mag man es auch mit den Tyrannen verstehen. Wer den Tyrannen tötet, der flieht vor dem Leid und entzieht sich seiner Pflicht dem weinenden Vater gegenüber. Denn das Leid ist beständig ewig und kann ebenso wenig wie die Kräfte vernichtet werden. So darf der rechtschaffene Ilmatari sich niemals eitel in der Dankbarkeit der Geretteten baden, sondern soll erkennen, von welch geringem Nutzen sein Handeln für seinen weinenden Vater war. Wer das Leben in der miseria profuga nicht erträgt, der ist unfähig, gegen das wahre Leid, die miseria animae anzukämpfen. Das Leid ist unveränderlich und ewig. Wir lindern das Leid im Auftrage unseres Vaters. Wir können das Leid nicht vernichten. Wer dies von sich sagt, der ist eitel, anmaßend und dumm oder aber handelt gut gemeint aber falsch. Wer dem gebrochenen Vater in der Welt dient, der weiß zu gut, wovon die Rede ist. Denn wer ließe sich von den flehenden Opfern der miseria profuga nicht dazu hinreißen, nicht erweichen, ihrem Leiden ein Ende zu bereiten und gegen ihre Tyrannen vorzugehen, wohl im Bewusstsein, dass das Leid ewig ist, ob es sich nun hier oder dort manifestiert? Vertreibt der Illmatari das Leid von dem einem Ort, so findet es dafür an einem anderen wieder. Und alle Opfer sind dieselben und alle flehen sie. Lindere es, aber maße dir nicht mehr an als du vermagst! All jenen Ilmatari, die sich in dieser Not wiederfinden, sei das Exempel der Heiligen Seanni zur Erbauung vor Augen gehalten.
Wer aber einzuwenden vermeint, der manifeste Illmater hat selbst Tyrannen vernichtet (Korbiann ausgenommen, der da nicht mit Sicherheit unser Vater war), dem ist vorzuwerfen, wie er sich mit unserem Vater zu vergleichen vermeint? Die Verkörperung Illmaters ist ewig weise, mächtig und unterliegt nicht unserem Verstehen. Wir elenden, dummen Menschen müssen uns die Lehre zum Vorbild nehmen, die der weinende Vater uns gegeben hat, nicht das Handeln des Manifesten, das von anderer Qualität und Machtvollkommenheit ist und aus Weisheit und Wissenschaft der überirdischen Dinge entspringt, die uns verschlossen sind. So erging es auch dem törichten Schüler des heiligen Märtyrers Glainoin. Als Glainoin, gehärtet von den heiligen Übungen, die der heilige Bodolio uns überliefert, durch das Feuer ging, da sagte er zu seinem Schüler: „Bleibe du zurück und lebe nach dem, was ich dir gelehrt habe. So dienst du dem weinenden Vater.“ Der Schüler aber hörte nicht auf den heiligen Glainoin, und so ward er schrecklich verbrannt, während Glainoin unbeschadet durch das Feuer ging. So verhält es sich auch mit den Taten des manifesten Illmaters. Wir sollten gute Schüler sein und seinen Willen befolgen, nicht töricht und dumm das uns Unnachahmliche nachzuahmen versuchen und ins Feuer gehen. Durch das Vernichten des Tyrannen sind wir nicht nur ungehorsam wie der Schüler des Glanoin, sondern verstoßen auch gegen das Prinzip unseres Vaters. Wir sollen das Leid lindern, nicht uns ihm entziehen und es fliehen.
Daher erhellt auch, dass der richtige Umgang mit den Tyrannen nicht deren Vernichtung, die ja nichts weiter als Schein, Flucht vor dem Leid und also eine feige Verschiebung ist, sein kann. Viel mehr lehrt uns der weinende Vater, dass das Verhältnis der Kräfte in der Seele des Tyrannen anzusprechen ist. Erschien nicht auch dem heiligen Märtyrer Lonean, als dieser den Tyrannen Fronul nicht vernichtete, sondern zum Guten bekehrte, der weinende Vater die Erscheinung der Richter und sprach zu ihm: „Wahrlich, du hast gut getan“? Kaum deutlicher können es uns die Sprüche des weinenden Vaters zeigen als bei Gullobert und bei Lonean. Welches Handeln stand eher im Einklang mit der Lehre? Zu dem einen sagte er nämlich „Dein Handeln war gut (womit ohnfehlbar mehr die Absicht als die Tat gemeint war) aber von schwindender Bedeutung." zu dem anderen aber: "Wahrlich, du hast gut getan". Eo ipso wird jeder die Antwort finden können. Die Kräfte vermag man in den Seelen zu verändern, nicht im Abtöten von Fleisch.
Wie wir das Gute in den Seelen fördern, darüber hat die lobenswerte heilige Pollona, den Geiste des weinenden Vaters in ihren Gedanken und Fingern, viel Gutes und Wahres geschrieben, de pugna contra malum -
Ein Bekenntnis eines Illmatari:
Zitat:
- Was ist das Leid?
--> Der Wille und der Wunsch von Göttlichen und Sterblichen.
- Woraus entspringt der Wille und der Wunsch?
--> Dem Konflikt zwischen dem Bösen und dem Guten.
- Wie verringern wir das Leid?
--> Wir gehen den doppelten Weg des Gebrochenen, die einzigen zwei Wünsche die einem Illmatari angemessen sind.
- Der erste?
--> Arbeite an dir! Wo kein Wille und Wunsch, dort kein Leid. Mache dich erhaben in seinen Augen und praktiziere die heiligen Übungen.
- Und so verringern wir das Leid, wahrlich! Der zweite?
--> Übernimm das Leid der anderen, denn du leidest nicht.
- Und so verringern wir das Leid, wahrlich! Welcher Weg ist zuerst zu beschreiten?
--> Der erste, auf dass wir am Leid der anderen nicht zerbrechen.
- Wahrlich, du wirst ihm ein guter Diener sein!