Sie hatte sich zu der Höhle begeben. Es war eine gute Höhle, abseits von Har'dor'kar. Kühle Steine aufgrund einer nahegelegenen Wasserquelle. Sie war von vielen Spinnen bewohnt, deren Nähe Illiam'cice Sicherheit und Vertrauen schenkte. Ein sachter Luftstrom zog beständig durch den Komplex, in dem sich diese Höhle befand und manches Mal erzeugte er auf den Steinen Töne, die sich wie der Gesang des Erdbodens selbst anhörten. Ein idealer Ort um ihre Verbindung zu beginnen und ein tieferes Verständnis zu erlangen, das ihr dabei helfen mochte, ihre Feinde zu zerstören.
Ihre Traurigkeit und Ängstlichkeit hatte gefährliche Tiefpunkte erreicht. Vielleicht war das der Anstoß gewesen, den sie gebraucht hatte, diese lange Prozedur endlich zu beginnen. Natürlich war die Sache nun nicht ungefährlich. Hier so abseits von Har'dor'kar war sie zwar ungestört und fern von der Bürde ihrer täglichen Pflichten, befand sich nicht so sehr in der Gefahr, von einer Meuchelmörderin oder einem Meuchelmörder der Stadt angegriffen zu werden oder von einem anderen plötzlichen Mordversuch unterbrochen zu werden. Aber natürlich war es trotzdem nicht ganz ungefährlich.
Daher hatte sie Amalafein mitgebracht. Sie mochte ihn und vertraute ihm - bis zu einem gewissen Grad. Natürlich machte sie sich keine Illusionen. Sie wusste, er würde sie ohne zu zögern töten, sobald sie auch nur ein Anzeichen von Schwäche zeigte oder er auf eine würdigere Spinnenpriesterin traf, die in der Hierarchie unter Illiam'cice stand und durch ihren Tod aufsteigen könnte. Aber solange weder das eine noch das andere der Fall war, würde er ihr ergeben sein - zumindest ging Illiam'cice davon aus.
Selbstverständlich wäre es aber dumm gewesen, nur alleine darauf zu vertrauen. Sie hatte ihm angewiesen, an einer bestimmten Stelle vor der Höhle Wacht zu halten und nicht in die Höhle einzutreten, außer wenn Gefahr drohte. Innerhalb der Höhle hatte sie dann eine der durch Lolths Segen in ihrem Mund ausgebrüteten Spinnen platziert, die sofort zu ihr krabbeln und sie warnen sollte, falls jemand die Höhle betrat. So fühlte sie sich nun relativ sicher.
Sie hatte ihre Rüstung abgelegt und trug leichte, bequeme, gemütliche Kleidung. Im Schneidersitz nahm sie an einem bestimmten Punkt der Höhle Platz, mit dem Rücken zur Wand, den Kopf in Richtung des Höhleneingangs gerichtet. Jetzt erst schloss sie ihre Augen. Sie atmete tief durch und konzentrierte sich einige Momente lang auf ihr Innerstes und sprach flüsternd ihr selbst gewähltes Mantra.
"Ängste blockieren mich. Sie verschließen mein Wurzelzentrum und erschweren meine Verbindung zu dem Erdboden der von Lolth geschaffenen Welt. Solange meine Ängste mich blockieren, kann ich nicht wachsen. Aber ich muss wachsen, um die Person zu werden, die ich sein will. Ich werde meine Ängste finden. Ich werde meine Ängste enttarnen. Ich werde meine Ängste erstechen. Meine Ängste haben nicht das Recht, mich an meinem Wachstum zu hindern. Meine Ängste haben nicht das Recht, mich aufzuhalten. Meine Ängste haben nicht das Recht, zu existieren."
Mit geschlossenen Augen legte sie ihre Hände aneinander und atmete dreimal tief aus und ein. Sie versuchte, sich auf ihr Wurzelzentrum zu konzentrieren, das sich bei ihrem Steißbein befand, mit dem sie auf dem Erdboden ruhte. Sie nahm die Verbindung zwischen ihrem Wurzelzentrum und dem Boden auf, dann die Verbindung zwischen ihrem Wurzelzentrum und dem Rest ihres Leibes.
"Schuld blockiert mich. Sie verschließt mein Wasserzentrum und erschwert die Empfindung der von Lolth geschaffenen Freuden des Körpers. Aber ich muss die Freuden empfinden und von den Pilzen aus Lolths Feldern kosten. Die Schuld darf mich nicht davon abhalten. Ich werde meine Schuld verstehen. Ich werde meine Schuld erkennen. Ich werde meine Schuld überwinden."
Sie führte ihre Finger an ihren Bauch, kurz unter den Bauchnabel und versuchte, die Verbindung zu erspüren.
"Scham blockiert mich. Sie lässt mein Feuerzentrum versiegen und erstickt die Flammen, die darin lodern. Solange meine Scham mich blockiert, kann ich nicht beflügelt sein. Aber ich muss beflügelt sein, um mich über mich selbst zu erheben. Ich werde meine Scham identifizieren. Ich werde meine Scham ausweiden. Ich werde ihre blutigen Überreste an meine Wand nageln. Meine Scham hat nicht das Recht, mich festzuhalten. Meine Scham hat nicht das Recht, mich zu unterwerfen. Ich werde meine Scham unterwerfen. Mein Feuerzentrum wird lodern und meine Feinde werden verbrennen."
Ihre Hand ging höher zu ihrem Bauch und sie konzentrierte sich darauf. Da bemerkte sie, dass sie Hunger hatte. Was für ein obskurer Gedanke. Wie konnte er es wagen, ihren Fokus zu stören? Sie versuchte ihre Konzentration zurückzuerlangen.
"Kummer blockiert mich. Kummer blockiert mein Herzzentrum und hindert mich daran, reinen Hass zu empfinden. Aber ich muss reinen, unverfälschten, puren, herrlichen Hass empfinden um parasitären Gefühlen wie Gnade und Schwäche keinen Raum bieten zu können. Mein Hass muss mich leiten können. Es darf keinen Kummer und kein Bedauern in mir geben."
Sie nickte zufrieden für sich und legte die Hand auf ihr pochendes Herz. Viola hatte zwar gesagt, dass das Herzzentrum für Liebe zuständig ist, aber Liebe ist ein schändliches Gefühl und Hass ging sicherlich ebenso. Da nur Kummer und nicht etwa Hass das Herzzentrum verschloss, würde es mit Hass sicher auch ganz gut klappen.
"Lügen blockieren mich. Sie blockieren mein Halszentrum. Die Lügen, die ich mir selbst erzähle..."
Kurz hielt sie inne. Die Lügen, die sie sich selbst erzählte. Nun begriff sie. Sie hatte es sich selbst zu einfach gemacht, Liebe einfach durch Hass zu ersetzen. Denn die Wahrheit war, dass sie Liebe empfand. Liebe zu ihrer Mutter. Liebe zu Zhai. Liebe zu ihrer Tochter. Liebe zu ihrem toten, dämonischen Sohn. Liebe zu ihrer Stadt. Aber Lolth betrachtet Liebe als eine nutzlose Schwäche. Konnte sie ihre Liebe mit ihrem Glauben an die Spinnenkönigin in Einklang bringen? Eine Frage, über die sie nachdenken und auf die sie eine Antwort finden musste. Nicht heute, aber es wäre feige, die Tatsache, dass sie Liebe empfand, zu ignorieren.
Sie berichtigte sich.
"Kummer blockiert mich. Er verschließt mein Herzzentrum und hindert mich daran, meine Liebe zu verstehen. Ich darf traurig sein, aber Kummer darf mich nicht kontrollieren. Ich muss meinen Kummer erkennen. Ich muss meinen Kummer empfinden. Ich muss mit meinem Kummer in Einklang kommen. Denn ich muss die Liebe verstehen, die in mir wohnt."
Vermutlich musste sie daran noch arbeiten. Aber es war auch erst der Anfang.
"Lügen blockieren mich. Sie blockieren mein Halszentrum und hindern mich daran, die Wahrheit zu sprechen. Nur die Wahrheit kann andere in den Tiefen ihrer Herzen inspirieren. Lügen sind vergänglich, aber die Wahrheit ist ewiglich. Einzig Furcht zwingt mich zur Lüge, doch die Furcht kann überwunden werden und dann werden die Wahrheiten alle überwältigen."
Ihre Finger tasteten zu ihrem Hals. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Verbindung wirklich spüren konnte. Aber das war ja auch alles noch in weiter Ferne.
"Illusionen blockieren mich. Sie blockieren mein Stirnzentrum. Sie erzählen mir, dass ich mein Ziel bereits erreicht habe, obgleich ich noch weit davon entfernt bin. Sie hindern mich daran, meine Verbindung zu Mutter und Zhai wahrzunehmen. Sie hindern mich daran, die Verbindung zu Lolth zu fühlen. Ich muss den Schleier meiner Illusionen lüften."
Sie fasste an ihre Stirn und nickte für sich.
"Ich werde meine weltlichen Bindungen lösen und ich werde mein Kronenzentrum erschließen. Ich werde eins mit Lolth werden. Ich werde eins mit der Göttin."
Und so begann sie mit ihrer Meditation.
_________________ ~"This ist my battle. This is my battleship."~
"Jene, die sich Abenteurer nennen, sind grausame Individuen aus einer anderen Welt. Sie sind auf der ständigen Suche nach neuen Opfern für ihre dunkle Gottheit Exp, die sie dafür mit immer stärkeren Fähigkeiten und Kräften ausstattet."
~Shadow is a man who never loses his virginity - because he never loses.~
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