Sie stand am Flussufer und hing ihren Gedanken nach. Das Wasser murmelte sein ewiges gleichförmiges Lied, zwei schillernde Libellen sausten flach darüber hin und verschwanden in Richtung Schilf. Railanta spürte die wärmenden Strahlen der Spätsommersonne auf sich ruhen.
Es wurde Zeit, loszulassen.
Sie wusste es. Es war der Lauf der Zeit seit jeher: Veränderung. Und man durfte nicht zurückblicken. Seit sie damals zurückgekehrt war, ist viel geschehen: Leute kamen und gingen, Abenteuer und Gefahren kamen und verebbten wieder. Sie mochte keine losen Enden. Sie wollte Dinge abschließen, wie man ein Buch zuschlägt, wenn man es gelesen hat. Um sodann ein neues zu öffnen.
So auch hier. Zumindest konnte sie es für sich tun, egal, ob man es bemerkte oder nicht.
Im Schilf raschelte es – und ein grauer Reiher erhob sich majestätisch in die Lüfte. Sie sah ihm nach. Und ein Lächeln huschte über ihre Lippen, das erste an diesem Nachmittag. Ja, sie wusste, was zu tun war. Endlich wusste sie es! Mit schnellen Schritten eilte sie zum Wagen. Dort lag, was sie brauchte.
Ein schimmender Kiesel, so groß wie eine Kinderfaust – auf ihn wollte sie die Zeichen geben. Tinte, angemischt aus Asche und Kermesbeere und Rauchpulver: es war eher eine Paste denn eine Tinte, aber so musste es sein – mit einer Feder malte sie feine Linien auf den Stein und bei jeder murmelte sie die Worte, für die die Linien stehen sollten. Sie hatte Zeit. Maarten war heute unterwegs und bereiste die Baronien. Sie würde fertig sein, ehe er zurückkam.
Die Sonne ging rotgolden unter. Stille legte sich über das Lager – nur im Wagen sah man kurz hinter den Fensterläden einen kleinen Lichtblitz, als das Rauchpulver die Linien unauslöschlich in den Stein brannte.
Sie schnitt sich in den Finger, der Blutstropfen, der wie eine rote Perle erschien, wurde auf das große Laubblatt verstrichen, welches sie bereitgelegt hatte. Da hinein wickelte sie den Stein und verschnürte alles mit einem dünnen Kupferdraht, an den sie noch ein kleines Knöchelchen knotete.
Die Schamanin war zufrieden – es fühlte sich gut an. Leicht. Befreit. Sie merkte erst jetzt, welche Last auf ihr gelegen hatte wie ein Nachtalb. Nun musste sie nur noch hinauf zur Höhle der Rituale. Und ihn dort der Tiefe übergeben.
Die kommende Nacht wäre die erste nach dem Neumond. Eine messerscharf gezeichnete Sichel würde den Himmel und Selunes Tränen Gesellschaft leisten. Das ist der rechte Zeitpunkt.
_________________ 'Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung' ~ Eugène Ionesco
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