"Droht mir nicht, Sir Lucian! Ich bin ein alter Mann und habe nichts zu verlieren!", erscholl es vor einem halben Zehntag im Franky's. Die Stimme des Sprechers war unverkennbar. Sie gehörte zu Kelemvors Kohelet in Rivin. Eben jener, der vor gut drei Zehntagen ins Fürstentum gekommen war und mit seinen Predigten schon für manche Kontroverse gesorgt hatte - jedoch nie bei der Mehrzahl der Zuhörer; es war in der Regel eine Gruppe von Frauen und Männern in dunkler Kluft oder feinem, pechschhwarzem Zwirn, die Anstoß an den Worten Angars fand - doch weiter mit dem ursprünglichem Geschehen: An diesem Abend waren etliche Gäste zugegen gewesen, die den anschließenden Wortwechsel zwischen dem Geistlichen und dem Adeligen Lucian Grave mitverfolgt hatten und ebenso die mahnenden Worte, die er, Angar von Kelemvor, vor dem Verlassen der Wirtschaft lautstark verkündigt hatte. Ja, der Totenwächter soll sogar soweit gegangen sein und Sir Lucian seinen Kopf angeboten haben, damit der dunkle Ritter ihm ihn abschlüge, denn anders würde er, Lucian, ihn vom Predigen nur schwerlich abhalten können - wider seinen Glauben, sein Gewissen und seine persönliche Einsicht und Überzeugung werde er nicht handeln, dass hatte der Kleriker des Totengottes öffentlich bekannt. Aufgrund dieses Zwischenfalls hatte der Kelemvor-Priester wohl auch sein Zimmer im Gästehaus des alten Franks aufgegeben. Oder musste er es gar verlassen? Hatte der Herbergsvater es vielleicht gewagt, einen alten Priester vor die Tür zu setzen?
Neu-Rivin ist Angar deswegen noch lange nicht los geworden. Man sieht ihn zwar nicht mehr so oft in den Straßen und nur noch selten bei Nacht durch die Gassen ziehen, wenn er mit seinem fahlen Licht eine mahnende Wacht gegen die Gefahr der Untoten bot. Doch dafür widmet er sich scheinbar vermehrt der Arbeit auf dem Friedhof. Alleine, oder schweigend mit Tara Dunkelwald, verrichtet er den letzten Dienst in Form der klassischen Thanatopraxie an den sterblichen Überresten der Verstorbenen. Er führt den Ritus des Übergangs durch, auf dass der Richter der Verdammten auf die Seelen - auf diese Wanderer zur Fugenebene -, die ins Jenseits übergangen sind, aufmerksam werden möge und sie sicher in die Stadt der Toten geleite.
Dabei steht er wohl im Kontakt zu Sir Maverick und Syvenile, wenn es um verstorbene Gläubige Helms oder Selûnes handelt und unterstützt diese aktiv bei der Durchführung der Bestattungsriten.
Auch hat Angar begonnen kranke Friedhofsbesucher und potentielle Patienten Taras zu kurieren. Nicht mit der profanen Heilkunst der Feldscher, Kräuterkundigen und Salbenbereiter, sondern durch die heilige Macht Kelemvors: Er bot die göttliche Genesung von Verletzungen und Krankheiten kostenfrei an. Jedoch nur, wenn die Betroffenen nicht im Stande waren die notwendige Spende in einem der Tempel Neu-Rivins zu entrichten. Dabei war er kritisch. Jene, die Brokat und Spitze, viel Silber und Gold am Leibe trugen, wurden darauf hingewiesen, dass sie diese durchaus erst veräußern sollten oder sogar in der bestehenden Form als notwendige Spende entrichten könnten - außer bei einem echten Notfall, aber dazu ist es bisher, den Göttern sei's gedankt, noch nicht gekommen!
Aber was tut Angar, wenn er jetzt weniger Zeit in der fürstlichen Stadt verbringt?
Er arbeitet weiter im Fürstentum und dient den Lebenden wie auch den Toten:
In der Schule der Baronie Rosenfeld soll er den bisherigen Unterricht ergänzen.
Wer das Treiben auf dem Markt von Neu-Rivin die letzten Tage über aufmerksam verfolgt hat, der wird mitbekommen haben, dass der Totenwächter viele, große Papier- und Pergamentbögen der untersten Preiskategorie erwarb. Von dort aus soll er zur fürstlichen Burg gezogen sein und wieder um ein Gespräch mit der Kanzlerin gebeten haben.
Und vor dem oben genannten Zwischenfall im Franky’s soll er sogar öfters in der Zuflucht gesehen worden sein. Ob es ihn jetzt wieder dahinzieht?
Und heute? Den Vorabend des 17. Eleasias' 1384 Taliser Zeitrechnung, dem sogenannten Huldüster, verbrachte er unweit von Löwenbach am Strand: Im Schatten eines großen Schiffes widmete er sich einem Gräberfeld. Lange Zeit kniete er dort vor den Begrabenen, das Gesicht in die gefalteten Hände gelegt. Und Angar tat das, was er schon so oft seit seiner Ankunft in Rivin getan hat:
Wache für die Toten halten, Trost und Segen spenden und Fürbitte für die Verstorbenen vor seinem Gott vortragen.
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