Keine Zeit zur Eingewöhnung
Oh ihr Seldarine, ihr lasst mir keine Zeit zur Eingewöhnung. Kaum drei Tage nach meiner Ankunft lief Qisab zu mir und berichtete, dass die Bürger Murivels die örtliche Umberlee-Priesterin hängen wollen. Angeblich hätte sie ihre Rivalin von der Kirche Selûnes in der Nacht ermordet, ein bei der Leiche im Hafen gefundener Dreizack sei der Beweis. Konsterniert folgte ich Qisab zum Hafen. Ein solches haarsträubendes Verbrechen hatte es in Murivel lange nicht mehr gegeben, wie ich aus den Annalen der Stadt wusste. Und dann gleich in den ersten Tagen? Solch ein Unglück kann man doch nur als schlechtes Omen deuten, oder?
Angekommen gelang es mir, die aufgebrachten Leute zu beruhigen. Der Mord an der Priesterin, selbst noch eine junge Frau, war ungeheuerlich und ein Schock. Die Umberleepriesterin beteuerte ihre Unschuld und sagte, der Dreizack sei ihr entwendet worden. Da es keine weiteren Beweise für die Schuld der Priesterin gab, bat ich Qisab darum, sie vorerst zu bewachen. Die Leute grummelten wegen der abgesagten Lynchjustiz und ich konnte sie befragen. Mehr als die Umstände der Tat konnte ich ihnen aber nicht entlocken. So musste Detektivin Dreani ermitteln!
Der entscheidende Hinweis kam im Haus der ermordeten Priesterin ans Licht. Sie besaß ein ganz erstaunliches Tagebuch, das scheinbar von Intelligenz beseelt war, denn es konnte auf niedergeschriebene Fragen ebenso schriftlich antworten. Es war entsetzt, als es vom Tod seiner Besitzerin erfuhr und war mehr als willig, mir zu helfen. Es stellte sich heraus, dass die Priesterin am Tag zuvor im Wald gewesen war, um in der Sache des verschwundenen Kindes aus Murivel zu ermitteln. Du erinnerst dich, das war der Fall, in dem die Städter den Feen des Umlands die Schuld gaben. Als sie zurückkam, war sie anscheinend sehr aufgeregt, wollte aber dem Tagebuch nicht den Grund mitteilen, sondern mit jemandem sprechen. Mit wem, wusste es nicht. So ließ ich mich von einem Milizionär in den Wald bringen. Qisab und später auch Findriel, der sich bekanntlich für alles interessiert, was mit Feen zu tun hat, folgten mir.
Wir stießen auch bald auf eine scheue Dryade, die zwar kein Wort sprach, wohl aber mit Nicken und Zeichensprache zu kommunizieren bereit war. Mit der Zeit und etwas Nachdenken erfuhren wir, dass das verschwundene Mädchen tatsächlich bei den Feen war. Es war aber nicht entführt worden, sondern geflohen und hatte Zuflucht im Wald gefunden. Wir erfuhren, dass der Vater des Kindes dieses oft geschlagen hatte und anscheinend sogar das Leben ihrer älteren Schwester, seiner Tochter, auf dem Gewissen hatte! Das war der Schlüssel zur Lösung des Rätsels. Auch die ermordete Priesterin hatte wohl im Wald davon erfahren, war aber so töricht gewesen, den Vater scheinbar alleine zur Rede stellen zu wollen. Daraufhin hatte er sie ermordet. Beweisen ließ sich dieser letzte Teil zwar nicht, wohl aber die Gewalt gegen seine Kinder.
Ich überredete das Kind, uns nach Murivel zu folgen, obwohl es große Angst hatte. Aber ich brauchte seine Aussage. Ich hatte mir vorgenommen, so weit es geht nach Regeln der Menschen zu spielen, daher konnte ich ihn nicht einfach ohne Zeugin bestrafen. Und die Menschen mussten es auch erfahren und glauben, damit sie in Ihrer Trauer nicht weiter wahllos Leute beschuldigten… Erevan, früher war es nicht so kompliziert gewesen!
Kurz gesagt, wir fanden den Mörder am Hafen auf seinem Schiff und ich beschuldigte ihn. Sofort sammelte sich eine rachlüsterne Meute um uns. Schließlich verlor der Mann die Nerven und richtete so eine seltsame gnomische Rauchpistole auf mich. Er drohte, mich und sich damit zu erschießen. Das war eine echte Gefahr. Diesen kleinen Kugeln kann man nicht ausweichen und ich war nicht gerüstet. Also versuchte ich, an ihn zu appellieren. Er musste zwar bestraft werden, aber es musste nicht der Tod sein. Unbemerkt von den Menschen bot ich ihm eine Alternative: einhundert Jahre Gefangenschaft in einem Rauchgefängnis. Wenn er wieder erwachte, würde jeder, den er einst kannte, tot sein. Eine zu milde Strafe, mögen viele sagen. Aber ich wollte einfach kein Todesurteil vollstrecken. Allerdings musste es so für die Umstehenden aussehen.
Letztlich war es ein Leichtes, den Mann einzusperren und es so aussehen zu lassen, als hätte ich ihn mit einem Zauber pulverisiert. Die Menschen waren zufrieden und konnten damit beginnen, die tote Priesterin zu betrauern. Auch die Umberlee-Priesterin nahm es mir nicht übel. Sie scheint umgänglicher zu sein als es Sehvet in Rivin gewesen war. Allerdings brauchte der Schrein der Selûne in Murivel nun einen neuen Priester. Ich beschloss, einen Brief an Mylenia in Niewinter zu verfassen und hoffte, dass sie dem Ruf folgen würde. Das wäre doch ein idealer erster Schritt als Jungpriesterin ihrer Kirche?
Ich bete, dass jetzt, wo ich da bin, nicht noch mehr Unglücke passieren...
_________________ Lux in Tenebris - "Light in darkness", Bertolt Brecht
YOLO - "Carpe Diem for stupid people. One of the most annoying abbreviations ever", Urban Dictionary
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