Ein kühler Wind strich über die Plattform der Zuflucht, liess die beiden Elfen erschauern, die eng aneinandergeschmiegt an der Brüstung standen und das geschundene Land besahen, welches sich in unheilvoller Stille unter ihnen erstreckte. Das sprachlose Entsetzen in ihren Augen, mit welchem sie zwei Nächte zuvor von eben dort den Sturz eines Sterns aus dem Himmel beobachtet hatten, war tiefer Trauer gewichen, Trauer um das Land, in dem sie eine neue Heimat gesehen hatten, Trauer um verlorene Hoffnung auf ein Leben in Frieden.
Die schiere Menge an Treibgut, die sie am vergangenen Tag auf dem fernen Meer hatten erspähen können, hatte kaum Zweifel an dem endgültigen Schicksal Rivins gelassen, welches am Ende des Wegs des fallenden Sterns gelegen hatte. Die Stadt der Bhen war nicht mehr. Und rings um sie her lag das Land im Fieber, floh das Leben die Gefilde ihrer gemeinsamen Heimat.
Keinen Zehntag zuvor hatten sie, Ylenavei und Eir'Cael, noch in den Strassen der Altstadt Rivins ein Feuer der Hoffnung, des Vertrauens in die wohlwollenden Götter ihrer Völker zu schüren versucht. Doch kaum jemand hatte ihnen wahrlich Aufmerksamkeit geschenkt. Als sie nun aus feuchten Bernsteinaugen in die Richtung sah, in welcher die Stadt Rivin gelegen hatte, sah Ylenavei in jenen Bemühungen einen törichten Versuch einem unaufhaltsamen Strom in einen Abgrund zu entkommen.
Die einfachen Leute in der Stadt schienen ihn gespürt, sich ihm in Gleichgültigkeit hingegeben zu haben, das Leben selbst floh das Unausweichliche. Die Tiere hatten den Wald in unnatürlicher Stille zurückgelassen. Selbst die meisten der Hüter waren ihnen in andere Gefilde gefolgt, und das Leben in Strauch und Baum, welches nicht wandern konnte, zog sich in sich selbst zurück. Sie alle schienen geahnt zu haben, was Ylenavei sich nicht zu denken gestattet hatte, bis der Stern vor ihren Augen niederging, bis die Erde selbst in einem unfassbaren Schmerzensschrei erzittert war: Hatten die Götter sich von diesem Land und ihnen, seinen Bewohnern, abgewandt?
"Die Göttinnen haben uns Gnade erwiesen, indem sie unsere Zuflucht vor den Angriffen der Trolle bewahrten", hatte Eir'Cael auf diese Zweifel in den Augen seiner Gefährtin erwiedert. Doch auch seine Stimme war von Kummer schwer gewesen.
"Wenn die Gnade der Göttinnen uns Leben und Heim bewahrten, so mag sie uns nicht ohne Sinn zuteil geworden sein." Ylenavei spürte die Wärme ihres Gefährten, der sich an ihre Seite schmiegte, und ein Hauch neuer Zuversicht glomm in ihrem Innern auf. Eir und sie waren hier und unversehrt. Mochte ihnen letztlich doch mehr gegeben sein als einem todgeweihten Land beim Sterben zuzusehen?
"Wenn die Göttinnen letztlich nicht bereit sind dies Land sterben zu lassen, wer wird nun, da die Hüter fortgezogen sind, über die Wälder wachen?", spann die junge Waldelfe ihren Gedanken vorsichtig weiter. "Die Götter wissen, wieviele überlebende Bhen sich dort draussen in der Festung sammeln, obdach- und mittellos..."
"Sie werden in ihrer Umgebung Abhilfe suchen...", führte Eir'Cael düster fort, "und nach den Gaben der Natur greifen."
"So lange sie den Bhen den freien Weg in die Wälder versagen, mögen all diese Goblins und Trolle dort unten dem Wald gar ein Segen sein", stellte Ylenavei fest, und neue Niedergeschlagenheit trübte ihren Blick. "Wenn ihnen bewusst wird, dass die Tiere fort sind...dass ihnen - wie auch uns - ein Hungerwinter bevorsteht, was werden sie dann tun?"
"Sie werden hier nicht lange leben können, ebensowenig wie wir", gab ihr Gefährte zur Antwort, "wenn die Geister keinen Frieden finden. Die Hüter mögen keinen Ausweg, keine Lösung für das Leben gesehen haben, als sie fortgingen..."
Haltsuchend schmiegte Ylenavei sich enger an ihren Gefährten und spürte, wie er sie, ebenfalls nach Kraft dürstend, fester umschlang. Würden zwei einfache Waldläufer denn einen Weg finden können, den ein Zirkel von Druiden nicht sah? Würden sie die Kraft aufbringen am 'Krankenbett des Waldes' auszuharren, bis die Götter sie alle auf den rechten Weg weisen würden? Zwei Paare bernsteinfarbener Augen glitten über das traurige Land tief unter ihnen. Letztlich würden ihre Herzen das Schicksal dieser Gefilde erkennen, wenn es dazu an der Zeit war...
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